Eine „Dekade der Versöhnung“ von 2023 bis 2033 auf dem Weg zum „Haus der Gemeinschaft christlicher Kirchen“ (1)

9 Thesen für die 11. ökumenische Weltversammlung in Karlsruhe 2022

Im Namen des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises
von Hans-Georg Link und Manfred Richter

I. Karlsruhe 2022 – eine historische Chance

Die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen vom 31. August bis 8. September 2022 in Karlsruhe ist eine historische Chance.

Zum ersten Mal in der Geschichte der ökumenischen Bewegung findet eine Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen auf deutschem Boden statt. Seit Amsterdam 1948 und Uppsala 1968 ist es nach über einem halben Jahrhundert (54 Jahre) erst die dritte Weltversammlung in Europa. Sie bietet die historische Chance, Themen und Fragen aus der deutschen und europäischen Region auf einem weltweiten Forum zur Sprache zu bringen, sodass sie weltweit Kraft zur Versöhnung bewirken.

II. Der Ökumenische Rat der Kirchen: Ein Glaube und eine eucharistische Gemeinschaft

„Das Hauptziel der Gemeinschaft der Kirchen im Ökumenischen Rat besteht darin, einander zur sichtbaren Einheit in dem einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft aufzurufen.“ (Verfassung des ÖRK, III.)

Der Ökumenische Rat ist am 23. August 1948 in Amsterdam als neues kirchengeschichtliches Phänomen gegründet worden, um die Kirchen aus ihrer konfessionellen Abschottung voneinander heraus- und in die miteinander verbindende Gemeinschaft hineinzuführen. Er hat diese Aufgabe von Anfang an in spiritueller, theologischer, karitativer, diakonischer, ethischer und politischer Hinsicht wahrgenommen. Um zahlreiche neue Herausforderungen, denen der Ökumenische Rat im Blick auf Gerechtigkeit und Frieden gegenüber steht, überzeugend bewältigen zu können, brauchen die Kirchen des Ökumenischen Rates eine tiefe Verankerung untereinander in einem Glauben und einer eucharistischen Gemeinschaft.
Diese zu ergreifen bedarf es vielfach noch eines Mentalitätswechsels, der den Vorrang des Fundaments in Christus vor den Ausprägungen der jeweils eigenen Tradition und angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen anerkennt, in die uns der Ruf Gottes heute stellt. „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ (Navid Kermani).

III. Einladung an Rom zu größerer Beteiligung

Da in Deutschland und Mitteleuropa die Beziehungen zwischen evangelischen und katholischen Kirchen im Vordergrund stehen, soll die römisch-katholische Kirche in größerem Maß als bisher an der Weltversammlung in Karlsruhe teilnehmen.

Im Ökumenismus-Dekret von 1964, in der Enzyklika von Papst Johannes Paul II. Ut Unum Sint „über den Einsatz für die Ökumene“ von 1995, in dem Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus Evangelii Gaudium von 2013 sowie in seiner Enzyklika Fratelli tutti von 2020 hat sich die römisch-katholische Kirche unmissverständlich und unwiderruflich zur Teilnahme an der ökumenischen Bewegung bekannt. Inzwischen haben Papst Paul VI. 1969, Papst Johannes Paul II. 1984 und Papst Franziskus 2018 den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf persönlich besucht und damit ihre Solidarität mit den anderen Kirchen bekundet. Angesichts der Bedeutung, die die evangelisch-katholischen Beziehungen seit der Reformationszeit positiv wie negativ in Deutschland und Europa haben, ist es jetzt erforderlich, Vertreter der römisch-katholischen Kirche in größerer Zahl als bisher zur Teilnahme in Karlsruhe einzuladen und die Zusammenarbeit von Genf und Rom dort und insgesamt perspektivisch zu intensivieren.

IV. Weiterentwicklung Konziliarer Prozesse

Die seit 1982 begonnenen Konziliaren Prozesse brauchen eine Vertiefung der Glaubensgrundlage und müssen miteinander verzahnt werden.

Mit der Verabschiedung der Lima-Erklärungen 1982 hat die Zeit der Konziliaren Prozesse und Dekaden begonnen. Neben der Dekade zu Taufe, Eucharistie und Amt – Decade for Baptism, Eucharist and Ministry (BEM-Decade) – ist 1983 in Vancouver der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ausgerufen worden. Es folgten in den neunziger Jahren die Dekade „Kirchen in Solidarität mit den Frauen“, „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts und seit Busan 2013 der „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ samt der Vision einer ökumenisch versöhnten Christenheit.(2) In der katholischen Kirche Deutschlands hat 2019 der Synodale Weg begonnen. Papst Franziskus hat 2021 einen konsultativen Prozess zu einer weltweiten dreijährigen Synode angestoßen. Damit diese verschiedenen Prozesse nicht nebeneinander verpuffen, benötigen sie eine überzeugende gemeinsame Grundlage in dem einen apostolischen Glauben und eine Zusammenführung in einem umfassenden konziliaren und synodalen Prozess.

V. Eine „Dekade der Versöhnung“

Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen sowie zwischen Menschen, Kirchen und Völkern. Dem soll die künftige „Dekade der Versöhnung“ dienen.

Den Kirchen sind das Wort und der Dienst der Versöhnung aufgetragen. Sie können das nur glaubwürdig tun, wenn sie sich an erster Stelle selbst miteinander versöhnen, indem sie frühere gegenseitige Verurteilungen und Exkommunikationen verbindlich und öffentlich außer Kraft setzen. Auf diese Weise werden sie selber zu sichtbaren Zeichen der Versöhnung und geben der Welt Zeugnis davon, wie Versöhnung geschieht und was sie bewirkt. Dafür soll in Karlsruhe eine „Dekade der Versöhnung“ von 2023 bis 2033 beschlossen werden.
Europa ist nicht nur der Ort, an dem die verschiedenen Reformationsbewegungen begannen, sondern auch der Raum, von dem aus Kirchenspaltungen auf alle Kontinente ausgebreitet worden sind. Dank der ökumenischen Bewegung nach 1945 haben sie ihre zerstörerische Kraft weitgehend verloren, behindern aber bis heute eine glaubwürdige konziliare Gemeinschaft der Kirchen. Die in fünf großen Bänden – „gelbe Ziegelsteine“ – vorliegenden „Dokumente wachsender Übereinstimmung“ (3) ermöglichen nun eine vertiefte Gemeinschaft der Verschiedenen; sie dürfen nicht in „Dokumente wachsender Enttäuschung“ verkehrt werden. Da überkommene gegenseitige Verurteilungen theologisch bereits aufgearbeitet sind, ist jetzt die Zeit gekommen, sie offiziell außer Kraft zu setzen.

VI. Zwischen 2023 und 2033 sieben Schritte u.a.

Die „Dekade der Versöhnung“ vollzieht die Aufarbeitung von Konflikten zwischen Kirchen in 7 Schritten; andere können folgen.

  1. Im Jahr 2023 nimmt der Lutherische Weltbund auf seiner Tagung in Krakau die Verwerfung des Papsttums als „Antichrist“ in vier reformatorischen Bekenntnisschriften im Blick auf das heutige Papsttum offiziell zurück. Die synodale Weltversammlung in Rom 2023 hebt die Gültigkeit der Exkommunikation Martin Luthers und aller seiner Anhänger aus dem Jahr 1521 (3. Januar) für heute offiziell auf.
  2. Im Jahr 2025 erinnert sich die gesamte Christenheit an ihr erstes Konzil vor dann 1700 Jahren in Nizäa (Iznik/ Türkei). Die Westkirchen kehren zum ursprünglichen Wortlaut des Bekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel (381) zurück, nehmen es in ihre Abendmahls- und Eucharistie-Gottesdienste auf und setzen so ein Zeichen spiritueller Gemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen.
  3. Im Jahr 2027 wird das Schleitheimer Bekenntnis der Täuferbewegung 500 Jahre alt. Es bietet den sog. großen Kirchen Gelegenheit, ihre gewaltsame Unterdrückung der Täuferbewegung aufzuarbeiten, ihre Schuld zu bekennen und so zur Versöhnung mit der heute weltweiten baptistischen Bewegung – anabaptist movement – beizutragen.
  4. Im Jahr 2028 jährt sich die Meißener Erklärung (1988) – gefolgt von der Erklärung von Reuilly (1999) – zwischen anglikanischen und reformatorischen Kirchen in Europa zum 40. Mal. Das ist eine Chance, die bisher fehlende gegenseitige Anerkennung der ordinierten Dienste, die Austauschbarkeit von Ordinierten sowie unterschiedliche Gestaltungsweisen des historischen Bischofsamtes zu vollziehen und so zu voller Kirchengemeinschaft zu gelangen.
  5. Im Jahr 2030 vor dann 500 Jahren wurde das Grundbekenntnis der Reformation, das Augsburger Bekenntnis, auf dem dortigen Reichstag vorgetragen und zurückgewiesen. 450 Jahre später unterstützte Josef Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., um 1980 die Bemühungen, die Confessio Augustana (CA) als legitimes christliches Bekenntnis anzuerkennen. Das kann im Jahr 2030 die Grundlage dafür bilden, dass auch die evangelischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche in verbindliche Kirchengemeinschaft miteinander eintreten.
  6. Im Jahr 2031 trennte sich vor dann 500 Jahren die anglikanische Kirche definitiv vom Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche. 500 Jahre später kann Art. 37 der 39 anglikanischen Artikel revidiert werden zur Gemeinschaft mit, aber nicht unter dem Papst. Das kann zu einem Modell für das Haus der Gemeinschaft christlicher Kirchen insgesamt werden.
  7. Im Jahr 2033 ist es nach rund 2000 Jahren Zeit, dass Christen ihre historische Schuld gegenüber dem Judentum öffentlich bekennen, zu ihrer Verwurzelung im Gottesvolk Israels zurückkehren und die prophetische Vision von der Völkerwallfahrt zum Zion (Jesaja 2, 1-5) in angemessener Weise umzusetzen versuchen.

VII. Konziliare Gemeinschaft im 21. Jahrhundert

Konziliare Gemeinschaft umfasst im 21. Jahrhundert sowohl den Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens als auch die Koinonia zwischen verschiedenen Kirchenfamilien in synodaler Gestalt.

Auf dem Weg zu den politischen Brennpunkten sowie den sozialen Rändern der Gesellschaft machen die beteiligten Gruppen eine Erfahrung von Wegbegleitung und entwickeln eine Theologie der Weggefährtenschaft – theology of com-pan-ionship –, die es unterwegs lernt, das Brot miteinander zu teilen. Diese neue Erfahrung kann auch dazu führen, dass ganze Kirchen als Glieder des einen Gottesvolkes in Gemeinschaft miteinander treten. Dafür bieten sich im 21. Jahrhundert als Perspektiven an: das Jahr 2030 für evangelische und katholische Kirchen; das Jahr 2054 – 1000 Jahre nach dem Bruch zwischen Rom und Konstantinopel – für westliche und östliche Kirchen; das Jahr 2062 für eine wahrhaft ökumenische Synode zum 100-jährigen Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils, die die Gemeinschaft der Christenheit in versöhnter Gestalt feiert, oder die 1750-Jahrfeier des ersten Konzils im Jahr 2075.

VIII. Sichtbare Zeichen in Karlsruhe und Strasbourg

Das Thema von Karlsruhe: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“, lädt zu drei sichtbaren Zeichen der Versöhnung ein: eucharistische Gastfreundschaft, gegenseitige Fußwaschung und ein öffentliches Schöpfungsfest.

Nach einer Generation ist es in Karlsruhe an der Zeit, sich an die Praxis von Vancouver 1983 und Canberra 1991 zu erinnern und etwa unter der Verantwortung des Erzbischofs von Canterbury, Justin Welby, eine Abendmahlsfeier nach der sog. Lima-Liturgie mit eucharistischer Gastfreundschaft anzubieten. Ein interreligiöses Gebet zusammen mit der Gemeinschaft Sankt Egidio und ihrem Leiter Andrea Riccardi verdeutlicht den Paradigmenwechsel vom Herrschen übereinander zum Dienen untereinander besonders klar, wenn in seiner Mitte die Handlung der gegenseitigen Fußwaschung vollzogen wird, die Jesus seinen Nachfolgern als Beispiel gegeben hat. Die bundesweite Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) feiert das von ihr geplante öffentliche Schöpfungsfest am Rhein in Karlsruhe zusammen mit der Bewegung „Fridays for Future“, um ihrer Freude an und Sorge für unser gemeinsames Haus der Schöpfung sichtbaren Ausdruck zu verleihen.

Ferner wird in Strasbourg dazu eingeladen, die Unterzeichnung der Charta Oecumenica für Europa im Jahr 2001 (4) nun in einem feierlichen Akt weltweit zu übernehmen und zu bestätigen – als Gabe der Gemeinschaft christlicher Kirchen in Europa an die gesamte christliche Welt.

IX. „Selig sind, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9)

„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen.“
(1. Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948)

Angesichts des Angriffskrieges gegen die Ukraine, den das Mitglied der russisch-orthodoxen Kirche, der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, am 24. Februar 2022 völlig überraschend und unbegründet vom Zaun gebrochen hat, muss die gesamte Christenheit ihre Stimme erheben. Sie muss sich an die Erklärung der 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 erinnern, „dass Gott von ihnen verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu nehmen“, und an die Erklärung der 6. Vollversammlung 1983 in Vancouver, „dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen und dass ein solches Vorgehen aus ethischer und theologischer Sicht verurteilt werden muss“. Daher kommt es in Karlsruhe darauf an, von allen Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates die Wiederherstellung der von der UNO verbürgten Nachkriegsordnung zu fordern und eine unzweideutige Verurteilung von Angriffskriegen samt einer zukunftsweisenden Friedensbotschaft zu verabschieden, verbunden mit einer öffentlichen Friedensprozession – beispielsweise am Sonntag, 4. September, zwischen den ehemaligen Kriegsfeinden: zwischen Karlsruhe, Kehl und Straßburg.

„Keine Zukunft ohne Versöhnung“ – Desmond Tutu
„Keine Versöhnung ohne neue Zukunft“ – Jürgen Moltmann

Anmerkungen:

  1. Vgl. dazu: Aufbruch zum Haus der Gemeinschaft Christlicher Kirchen. Plädoyer für eine Dekade der Versöhnung 2023 bis 2033. Memorandum von ökumenischen Kreisen und Personen an Delegierte, Interessierte und kirchliche Verantwortungsträger für die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe, in: KNA-ÖKI 3, 18. Januar 2022, Dokumentation I – XVI (bislang von mehr als 200 Persönlichkeiten unterzeichnet).
  2. Vgl. dazu: Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Eine Studie (Konvergenztext) der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Gütersloh/ Paderborn 2014.
  3. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bde.I – V, 1931 – 2019, Frankfurt/Main, Leipzig,Paderborn 1983 – 2021.
  4. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa. „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“, Strasbourg, 22. April 2001.