Einleitung1
Die Erinnerung an die Geschichte von Jan Hus ist heute unabweisbar. Sie ist es besonders für die Kirchen nunmehr 600 Jahre nach seiner Hinrichtung, denn seine Gedanken sind bis heute lebendig geblieben. Sie könnten heute, die Konfessionen übergreifend, Impulse für eine allfällige Erneuerung in allen Kirchen geben. Und sie könnte Reform-Aufgaben, die das Konzil zu Konstanz (1414-1418) damals nicht aufgegriffen hat oder nicht zu leisten vermochte, von neuem voranbringen. Denn die Hinrichtung von Jan Hus ist durch ein Konzil erfolgt, das aus ganz Europa, auch aus dem orthodoxen Osten, beschickt wurde, um Reformen der Kirche »an Haupt und Gliedern« durchzuführen. Doch dieses Reformkonzil richtete einen der ernsthaftesten Reformer seiner Zeit hin.
So ist an beides zu erinnern: den Weg des Jan Hus und den Weg des Konzils:
- an den Weg von Jan Hus aus dem Dorf Husinec und dem Städtchen Prachatic
- und von der südböhmischen Provinz in die glänzende Hauptstadt Prag,
- an seinen Aufstieg dort in höchste Ränge in der Universität und Kirche
- zu wirkungsvoller Tätigkeit, zusammen mit vielen Mitstreitern,
- auch späteren Gegnern, wovon einige zuvor ihm nahe Freunde waren-
- von beiden Seiten ist die goldene Stadt Prag bis heute voll Erinnerungen –
- und an sein Exil im eigenen Lande ging, auf schützenden Adelsburgen, und
- an seinen Weg nach Konstanz zum dort versammelten Reform-Konzil,
- gefeiert mit Begeisterung auf allen Stationen in Böhmen, Franken, Schwaben,
- um hochgemut in Konstanz zu verteidigen , wovon er überzeugt war,
- wo er jedoch im Stillen von vorneherein verurteilt war zum Tode,
- den er in unerhörter Tapferkeit auf dem Scheiterhaufen auf sich nahm
- als Märtyrer seines an die Heilige Schrift gebundenen Gewissens,
- dem dann weitere Gewissens-Märtyrer, bekannte und Unbekannte, folgten
- und auf dem Generationen anderer Reformatoren aufbauten, bis endlich heute
- er, der einst verdammt war, nun auch vom Papst gewürdigt wird als solcher:
- als Reformator, der uns Christen heute Anlass zur Verständigung sei.
Wenn wir so uns so überblickhaft den Lebensweg von Jan Hus vor Augen stellen, so wird bereits deutlich, wie sein Geschick unlösbar verbunden war mit diesem berühmten Konzil zu Konstanz, das trotz mancher wesentlicher Verdienste sonst, im Gedächtnis der Kirchengeschichte immer mit dem Makel der Hinrichtung von Jan Hus, sowie ein Jahr später, seines Mitstreiters Hieronymus von Prag behaftet blieb – sowie dann weiterhin in der Folgeverantwortung als Ursache für die Auslösung von Kriegen und die Hinrichtung weiterer Hunderter von Gläubigen.
Dabei war es das grösste und das repräsentativste Konzil der lateinischen Christenheit überhaupt, an dem als Gäste auch Delegierte der orthodoxen Kirchen aus Novgorod, Konstantinopel und aus dem griechischen Bereich teilnahmen. Dieses Konzil, vorbereitet durch Beratungen und Entwicklungen in allen Ländern Europas, war angetreten in einer überaus komplexen Situation des christlichen Abendlands. Standen sich doch zu jener Zeit drei Päpste gleichzeitig gegenüber – so dass sich Kardinäle aus den drei mittlerweile entstandenen »Obödienzen« zusammenfinden mussten, um Wege zu finden, das Schisma zu beenden . E schien dem Konzil die vordringlichste Aufgabe, die sog. causa unionis.
Doch waren ihm auch andere Aufgaben gestellt, darunter ebenfalls dringlich, die Klärung von Glaubensfragen, die sog. causa fidei. Sie stand im Raum durch die Grundsatzkritik, die von dem einstigen englischen Theologieprofessor in Oxford, John Wyclif, an der aktuellen kirchlichen Lehre, der Kirchenstruktur und der kirchlichen Praxis geübt worden war. Obgleich Wyclifs Auffassungen von einer englischen Synode verurteilt worden waren, galt dies nicht gesamtkirchlich. Und durch die Rezeption Wyclifscher Lehren und Impulse auf dem Kontinent, zumal in Böhmen durch Kreise an der Universität, zu denen Jan Hus gehörte, war dies zu einem Konzilsthema geworden, die causa fidei.
Dennoch war das eigentliche Gesamtthema des Konzils die seit Jahrhunderten angewachsene Forderung nach einer Reform der Kirche in ihren Strukturen überhaupt, also die causa reformationis. Sie stellte sich schon Anfang des 14. Jh. durch das Exil der Päpste in Avignon, im Einfluß der französischen Krone, verschärfte sich durch das Schisma seit 1478, als zwei Päpste nebeneinander regierten, und hatte sich mit dem vorausgegangenen Versuch einer Papstneuwahl in Pisa 1409 nicht etwa gelöst, sondern zu einer Dreiteilung der Christenheit weiterentwickelt. Schon Wyclf, und erst recht Jan Hus hatten ihre Gedanken aber als grundlegenden Beitrag zur Lösung der Reformaufgabe verstanden. Stattdessen verstanden es aber die Reformgegner, sie primär als Sache der Glaubenslehre darzustellen und belegten sie, wie regelmäßig schon andere Reformvorschläge zuvor, mit dem Häresievorwurf. Mit diesem Vorwurf behaftet, waren sie im einzelnen nicht mehr diskussionswürdig und schnell aus der Welt zu schaffen. Und so verlief es auch in Konstanz: der causa fidei zugeordnet, als Teil des »Wyclifismus«, den man dann als erstes verurteilte, wurden auch seine Reformforderungen – und mit ihnen er selber – verurteilt.
Dabei gab es enorme Probleme des Zustandekommens dieses Konzils. Und dies auf der geistlichen wie auf der weltlichen Seite. Gab es doch nun eine Dreizahl amtierender Päpste, statt nur eines. Und andererseits gab es auch keinen amtierenden Kaiser im Heiligen Römischen Reich, sondern vorübergehend ebenfalls drei Kandidaten für dieses Amt. So musste sich ein deutscher König als prospektiver »Konzilsvogt« schon im Verbund mit den Kardinälen und einem der amtierenden Päpste um das Zustandekommen des Konzils bemühen. Dazu bedurfte es der Verständigung zwischen den Ländern Europas. Das Konzil wurde dann von Papst Johannes XXIII einberufen und aus Vertretern der verschiedenen »nationes« gebildet, eine grosse und glänzende europäische Versammlung aus geistlichen und weltlichen Delegierten. Und, eine Neuerung, es stimmte nach »nationes« ab.
Der deutsche König, es ist Sigismund aus dem Hause Luxemburg geworden, zugleich König von Ungarn, hatte durch seine geschickte Diplomatie grosse Verdienste an seinem Zustandekommen erworben. Zugleich befand er sich in einer problematischen Situation, da gerade in seinen böhmischen Stammlanden jener Aufbruch einer neuartigen Reformbewegung erfolgt war, der das Konzil beschäftigte und beunruhigte. Hus, bereits vorgeladen an die Kurie, gedachte sie vor dem Konzil zu verteidigen.
Und hier kann man, und vielleicht muss man von der Tragödie dieses Reformkonzils sprechen. Denn es war einem komplizierten Zusammenspiel von kirchenpolitischen, politischen, und mit ihnen verketteten theologischen Faktoren ausgesetzt. In dieser Gemengelage sah es sich nicht in der Lage, den tieferen Reformimpuls aufzunehmen, der von den böhmischen Reformern ausging, so ernsthaft auch in Konstanz um Reformfragen der Kirche gerungen wurde. Vielleicht ist es nur scheinbar ein Paradox – gilt auch hier, was man von Revolutionen sagte: »die Reform frisst ihre Kinder«?
Wenn also der Titel dieser Überlegungen nicht eigens von einer Tragödie des Jan Hus spricht, sondern von der des Konzils, so weil sich zeigen wird, dass von einer doppelten Tragödie des Konzils zu reden ist. Gewiss vereinfacht und zugespitzt wir man sagen dürfen: in der Notlage, sich erst selbst erst theologisch legitimieren zu müssen, verfuhr das Konzil gegenüber Hus geistlich illegitim. Das meint etwas anderes als »illegal«: für das kanonisch geregelte Verfahren und seine mehr oder weniger korrekte Durchführung konnten immerhin Gründe beigebracht werden, wie sie gerade der ehem. Präsident der Päpstlichen Historikerkommission, Walter Brandmüller, zu vertreten versucht2.
Es müssen also diese beiden Aspekte zusammen erörtert werden: der Weg des Jan Hus – und der Weg des Konstanzer Konzils. Aus beidem erwachsen Fragen für den Weg der Kirche als Ökumene heute.
Zum einen: Wie ist der Weg des Jan Hus mit seinen Entscheidungen heute theologisch und kirchlich zu bewerten ? Es kann festgestellt werden, dass hier, dank der neu gewonnenen gegenseitigen Offenheit und der Bereitschaft zur Selbstkritik und zum brüderlichen Gespräch in der Ökumene zwischenkirchliche Annäherungen in der Sicht auf Jan Hus erfolgt sind, die bis vor fünfzig Jahren nicht vorstellbar waren.
»Bedauern über den grausamen Tod« wurde von Papst Johannes Paul II ausgesprochen, nachdem seit dem Vaticanum II. auch in der römisch-katholischen Kirche eine umfangreiche Debatte über eine Revision des Prozesses sowie eine Neubewertung der Theologie des Jan Hus ausgebrochen war. Bedeutsame Studien und hochrangige Kolloquien, zuletzt in Rom am Abend des Millenniums, 1999, führten zum Ausdruck von Annäherungen in Tschechien und in Rom der römisch-katholischen Kirche mit Vertretern der Kirche der Böhmischen Brüder und der Hussitischen Kirche. Sie führten zu Versöhnungsgesten an den Apostelgräbern zu Rom.
So sei von Anfang an festgestellt, dass unsere Erinnerung an Jan Hus und das Konzil sich verpflichtet sieht, den Aufruf von Papst Franziskus aufzunehmen, das Hus-Gedenken als Anlass zu Dialog und Versöhnung zu begreifen. Auch wenn von römisch-katholischer Seite bislang eine formelle Rehabilitation von Jan Hus aussteht, ist für eine Neubewertung in der jüngeren Forschung der Boden bereitet worden, unabhängig von den jeweiligen Konfessionstraditionen und den juristisch-kanonistischen Einschätzungen.
Vorauslaufend aber mag es nützlich sein, einen kurzen Überblick auf bisherige Sichtweisen auf Jan Hus sich vor Augen zu halten. Denn vielfach sind es mehr oder weniger grobe Entstellungen dessen, was er wirklich wollte und lehrte. Dabei werden uns Fehldeutungen im Bereich aller grossen Kirchen begegnen, die ebenso richtigzustellen sind wie einseitig national geprägte oder andere ideologisch bestimmte Formen der Hus-Rezeption, dabei auch der Hus-Verehrung, dem kritischen Urteil auszusetzen sind.
Zum anderen: Wie ist der Weg des Konzils mit seinen ekklesiologischen Entscheidungen heute zu bewerten? Wie ist seine Bedeutung für die konziliare Bewegung von damals zu sehen? Welchen Fortgang fand diese konziliare Bewegung? Hat sie Anerkennung durch das vom Konzil wiederhergestellte Papsttum gefunden ? Was hat sie zu tun mit der Forderung nach einem gesamtchristlichen Konzil in den Reformationen des 16. Jahrhunderts? Hier ist dann auch zu erinnern an die Erneuerung des konziliaren Denkens durch den Hus-Nachfolger und Bischof der Brüderkirche Jan Amos Comenius bis hin zu der Bedeutung, die das konziliare Denken in der neueren ökumenischen Bewegung wiedergewann.
Denn als 1959 Papst Johannes XXIII (dazu die Ironie, dass er sich den lange vermiedenen Namen eines in Konstanz vom Konzil abgesetzten Papstes gegeben hatte!) ein Konzil einberief, war alle Welt überrascht, zumal in der römisch-katholischen Kirche selber. Dachte man doch nach dem I. Vatikanischen Konzil 1869-70, dass man nie mehr ein weiteres Konzil erleben werde! Und so erstand ja von neuem die Frage nach der Relevanz eines Konzils. Wenngleich dann das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) die Kompetenzen eines Konzils streng begrenzte (war doch das I. Vatikanische Konzil mit seinen Beschlüssen zur Papstdogmatik vorausgegangen), bleibt seither der Gedanke der Unvermeidlichkeit konziliarer Beratung weiterhin virulent. Und das gilt sowohl inner-römisch-katholisch wie ökumenisch. So stellt sich die Frage, die die Joachim Köhler in unserem Zusammenhang so formulierte: ist nicht in Konstanz eine Chance vertan worden, nämlich die Frage nach der grundlegenden Rolle des universalen Konzils auf Dauer zu klären? Und gilt es dann nicht, die damals »ungenutzte Chance« heute zu nutzen?3 Und das umso mehr, als heute mit Papst Franziskus sogar ein Papst selber sagt: Kirche-Sein ist Synode-Sein.
Ohnehin setzt der Fortgang der ökumenischen Bewegung insgesamt notwendigerweise die kontinuierliche, die offene und die geschwisterliche Beratung der Kirchen untereinander voraus. Jedenfalls, dann wenn die allseits deklarierte Zielsetzung ernstgemeint ist, sich um sichtbare Einheit in der Gemeinschaft der Kirchen zu bemühen. Das ist nur denkbar innerhalb einer sich selber bereits als konziliar verstehenden Gemeinschaft der Kirchen.
Eine solche Gemeinschaft der Kirchen existiert ja bereits. Sie ist de facto gegeben in der Zusammenarbeit der Christen jeder Konfession in gemeinsamen Gottesdiensten und Initiativen vor Ort, auf Landesebene und international. Diese ist bereits wesentliches, dynamisches Strukturelement in der ökumenischen Bewegung unserer Tage. Und sie sieht sich unter der johanneischen Verheissung (Joh. 17,23) »ut unum sint«, »dass sie eins seien«. Gerade so ist sie zum Fortschreiten in steter selbstkritischer konziliarer Beratung verpflichtet.
Im Folgenden wird hier im Jahr des 600-Jahres-Gedenkens zunächst auf Jan Hus, seinen Lebensweg und sein Lebenswerk sowie auf Aspekte seiner Rezeption verwiesen. Deren vertiefende Ausarbeitung und die Darstellung der Konzilsproblematik sowie beider Nachwirkungen bis heute sei einer eigenen Studie vorbehalten, die im folgenden Jahr erscheinen soll.4
A Jan Hus – Sein oft verzerrtes Bild in der Geschichte
Jan Hus ist geradezu ein Schul-Beispiel für einseitige Vereinnahmung einer Person durch »der Parteien Gunst und Hass«. Die Persönlichkeit selber geht dabei unter. Dem Anspruch korrekter Darstellung einer Lebensgeschichte und eines Werks wird dabei Hohn gesprochen. Und dennoch wurde, seit Jahrhunderten das Bild von Jan Hus teils in den Schmutz gezogen, teils in den Himmel gehoben, jahrhundertelang dem Vergessen anheimgegeben, dann wieder auferweckt – und das mit immer neuen, oftmals konträren Vorzeichen.
Führen wir uns einige Beispiele dafür vor Augen.
I Konfessionelle Verzerrung – die römisch-katholische Selbstkorrektur
So schreibt Pater Paul de Vooght, der sich ausdrücklich vorgenommen hat, eine un-parteiische Darstellung von Jan Hus aus katholischer Sicht zu schreiben5, in seiner Einleitung, »que la personnalité réelle de Jan Huss disparût sous l’image simpliste de »L‘ Hérétique‘, le cas était classique« – ein, wie er sagt, geradezu »klassischer « Fall, dass jemand als »Häretiker« markiert war, und schon brauchte man nur noch Negatives über ihn verbreiten, selbst wenn nes »anh ndnje haaren« herbeigezogen war. Das stellt er an Beispielen katholischer Geschichtsschreiber dar, beginnend schon bei dem Verfasser der Chronik des Konzils Ulrich von Richenthal6 und fortgesetzt im 16. Jh. etwa bei Cochlaeus, dem Gegner Martin Luthers, der sich auf Hus berufen hatte. Hus war für ihn eine »schlüpfrige Viper«. So geht es fort, wie er bemerkt, bis in die jüngere, auch noch die besser mit Quellen belegte katholischen Geschichtsschreibung. Er weist dies etwa am Beispiel des bedeutenden katholischen Hus-Forschers vom Anfang des letzten Jahrhunderts Jan Sedlák nach, der in seinem Werk Mistr Jan Hus diesem in einem der damals heikelsten Streitpunkte, der Frage nach dem Verständnis der Eucharistie, zwar eine durchaus dem Dogma gemäße Position zugesteht. Bei allen anderen Autoren hätte er sie gewiss auch als rechtgläubig anerkannt. Dennoch meine er, Hus dabei »häretische« Gedanken unterstellen zu sollen, da er sich einer Parteinahme nicht enthalten wollte. De Vooght kritisiert weiter auch Husforscher wie František M. Bartoš, dass sie ihn dafür noch gelobt hätten. Zugleich kritisiert er aber auch Auffassungen – sowohl in der deutschen reformatorischen Rezeption wie auch in der tschechischen Geschichtsschreibung des 19. Jh. , die ihn, wie er meint, in ungeschichtlicher Weise als »le précurseur si non le fondateur du protestantisme«, und mehr noch als »martyr de la liberté de conscience« feiern – sieht er in Hus doch interessanterweise gerade einen »guten Katholiken«.
Hier ist also eine bedeutsame Wende erkennbar, nicht nur in den Forschungen von de Vooght selber, sondern auch bei all denen, die ihm in der Forderung einer Neubewertung nachfolgten7: ob bei Forschern wie dem Lubliner Philosophen Swieżawski, dem in USA lebenden Kirchenhistoriker Francis Dvorník, dem einstigen tschechischen Untergrundpriester Tomáś Halík (der sich eine kirchenamtliche Distanzierung vom Konstanzer Urteil wünscht) oder bei hohen römisch-katholischen kirchlichen Würdenträgern wie den Erzbischöfen von Prag bis hin zu den Päpsten Johannes Paul II und jetzt Franziskus. Dieser fordert eine vorbehaltlos unparteiische Forschung und Darstellung »im Interesse der geschichtlichen Wahrheit«. Und dies sieht er als Voraussetzung, aber auch als Ermöglichung aufrichtiger Schritte der Versöhnung.8 Bereits 2005 meinte Kardinal Vlk in einem Vorwort zur Zusammenfassung der Fragen kanonischen Rechts zum Prozeß in Konstanz, wie sie der tschechische Hus-Forscher Jiřy Kejř vorgelegt hat, »das Ende der ‚Grabenkämpfe‘ zwischen den ‚Lagern‘ erkennen zu können: »Der Magister Johannes Hus wird aufhören, uns zu trennen, und die Wahrheit in der Liebe wird uns freimachen (Joh. 8, 32)«9.
II Die Sicht auf Jan Hus in der ostslawischen Literatur
Die unterschiedliche Rezeption von Jan Hus im Bereich der ausser-tschechischen slawischen Kulturen ist im Westen wenig bekannt. Der ukrainisch-polnische Kulturwissenschaftler Roman Mnich hat hierzu eine eigene Untersuchung anlässlich des Jan-Hus-Gedenkjahrs vorgelegt, aus der hier eine Reihe charakteristischer Hinweise weitergegeben werden sollen. »Exustus non convictus« – »verbrannt aber nicht besiegt« – überschreibt er seine Übersicht über die Sicht und die Rezeption von Jan Hus bei ostslawischen Autoren. 10
Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Rezeption in den drei heutigen Ländern Belarus, Russland und Ukraine (wobei in deren Territorien früher Länder wie Litauen, Polen, das alte Russland, und Teile von Österreich Ungarn Rumänien und Rumänien enthalten waren) «in erster Linie die bestehenden Religionskonflikte« in diesen Ländern widerspiegele, dazu ferner die mit diesen oft verbundenen nationalen Spannungen. So sind die Bezugnahmen auf Hus zugleich Spiegel der Zeitverhältnisse und Positionen der jeweiligen Autoren.
Die erste Berührung mit dem Hussitentum hatte in Belarus stattgefunden, da der enge Mitarbeiter von Jan Hus Hieronymus von Prag (1380-1416) 1413 Witebsk besuchte und Gespräche mit orthodoxen Priestern führte. Auch hatte er Pskow besucht, damals eigenständige Republik, sowie Polock. Besonders ist aber auf Franciscus Skorina (ca. 1490-1552) zu verweisen, der 1515-1520 in Prag gelebt hat und dort Veröffentlichungen zum Alten Testament herausgab. Man sei sich über seine Konfessionszugehörigkeit nicht einig gewesen (ob Katholik, Ortodoxer, Uniat oder Protestant) – doch wurde er aus dem Großfürstentum Moskau, wo er1535 auftrat, als Katholik verbannt und seine Bücher wurden verbrannt. Er kehrte noch einmal 1525 nach Prag zurück, in ein Amt bei Hofe, und starb dort 1552.
III Die Sicht auf Jan Hus in der russischen Literatur
Am vollständigsten wurde das Hussitentum in Russland erfasst, in »Dutzenden von Büchern und Hunderten von Artikeln«, wobei A. Florovskijs »Jan Hus in russischer Bewertung« und Ludmila Leptewa mit »Russische Historiographie der hussitischen Bewegung« herausragen. Die russische Rezeption im 19. Jh. und darüber hinaus steht überwiegend im Zeichen des Slawophilentums, das Jan Hus als »grossen Slawen« (Konstantin Grot) zugleich religiös der Orthodoxie unterstellen will. Er habe das Erbe der frühen orthodoxen Mission von Kyrill und Metod in Tschechien weitergetragen (selbst wenn er keine Kenntnis der Orthodoxie gehabt habe – so Alexander Hilferding, ähnlich Jewgenij Nowikow u. a.). Von daher sei er in seinen Konflikt mit Rom geraten. Dagegen wandten sich der Theologe Alexander Iwanzow-Platonow und der Historiker Nikolaj Kareew, welcher erkannte, das der Name von Jan Hus »zu keiner Art Losung für das ganze Slawentum in dessen Gegenüberstellung zum romanisch-germanischen Westen« werden darf, und der Philologe Ismail Sresnewkij hielt »Hus nicht für den Vertreter der Orthodoxie sondern für den Vorgänger Luthers«. Die slawophile Denkweise kommt auch in einem Gedicht von Fjodor Tjutschew zum Ausdruck, auf das Mnich aufmerksam macht: »Hus auf dem Scheiterhaufen (1870). Es richtet sich an die tschechischen »Blutsverwandten« mit einem Aufruf zu »brüderlicher Einigung«, wobei Hus als Opfer zum »Entlarver der römischen Lüge« wird und für die Wahrheit Gottes leidet.
In sowjetischen Zeiten wirkten dann Übersetzungen von Romanen der französischen Schriftstellerin George Sand in einschlägigen Passagen, wo sie auf Hussiten Bezug nimmt, als Information über hussitische Anschauungen.
IV Besondere Nähe zu Jan Hus in der Ukraine
Im Bereich des einstigen Polen-Litauens, das ja auch grosse Teile der Ukraine umfasste, hatte lange Zeit die bekannte »polnische Toleranz« gegolten, weshalb hier protestantische Flüchtlinge verschiedener Herkunft wie etwa von der Kirche der Böhmischen Brüder in mehreren Phasen aufgenommen wurden, darunter auch Johann Amos Comenius mit seiner Gemeinde. So war die reformatorische Tradition des Hussitentums immer bewusst. Beim Konstanzer Konzil war die polnische Delegation, geleitet vom Rektor der Krakauer Jagiellonen-Universität Pawel Wlodkowitsch, die einzige, die Jan Hus verteidigte. Der führende ukrainische Historiker Michajlo Hruschewskyi verweist darauf, dass der spätere hussitische Heerführer Żiżka bereits 1410 bei der Schlacht von Grunwald auf polnischer Seite gekämpft habe. Auch stellt er fest: »Ukrainische Orthodoxe studierten an der Prager Universität und waren, wie Martynko von Wolhynien, Schüler des Magisters Hus. Das von der polnische Königin Hedwig begründete litauische Kolleg gehörte zur ‚Vereinigung von Bethlehem‘ und stand Hus damit sehr nahe. Von seinen orthodoxen Schülern hatte Hus schon manches über die Ostkirche erfahren«. Soukup erwähnt11, dass Hus über das litauische Kolleg die Aufsicht zu führen hatte. Unter den hieraus stammenden Schülern ragt der ihm befreundete Peter von Mladonowice hervor, der als Sekretär des Hus nach Konstanz begleitenden Ritters Johann von Chlum den wichtigsten Augenzeugenbericht niederschrieb. Auch stammt daher der Mitbegründer der radikalen Richtung der Taboriten, Nikolaus von Pelhřimov, ihr dort gewählter Bischof, der sie 1433 beim Konzil von Basel vertrat aber später wegen seines Festhaltens am Taboritentum unter dem hussitischen König Podiebrad im Kerker verstarb. Natalia Polonska-Vasylenko, die ebenfalls die Reisen des Hieronymus von Prag nach Wilna, Polock und Witebsk erwähnt, urteilt: »Für die Ukrainer waren in der Hussitenbewegung nicht religiöse Motive ausschlaggebend, denn Anfang des 15. Jh. entstand die nationale Bewegung als Protest gegen die Polonisierung, wobei gerade die Hussiten die nationalen Motive ihres Kampfes betonten«. Religiös relevanter waren die Einflüsse der Lutherischen Reformation12.
»Das zentrale Werk, das mit der Person von Jan Hus und der Ideologie der Hussiten im ukrainischen Geistesleben des 19. Jh. verbunden war«, so Roman Mnich, »war das Poem des bekannten ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko »Ketzer. Jan Hus« (1845 entstanden, 1861 veröffentlicht).Der Tod von Jan Hus wird hier in einer biblisch-apokalyptischen Szenerie mit dem von Jesus Christus verglichen, Konstanz mit Golgatha und der Papst als Antichrist bezeichnet, dessen Opfer Jan Hus ist. Mit dem biblischen Leitwort von dem »Stein, den die Bauleute verworfen haben«, der aber zum »Eckstein« geworden ist (Ps. 118,22), ruft er Hus geradezu – Christus gleich – zum Fundament eines neuen Slawentums in Gesellschaft und Kirche aus, und fordert die Slawen auf, ebensolche Ketzer wie »der große Ketzer« Jan Hus zu werden. Nach der Interpretation durch den ukrainisch-galizischen Autor Ivan Franko aber »spielte der Glaube, sei er orthodox oder römisch oder sonstwie anders in seinen slawophilen Träumen gar keine Rolle«, und der Glaube habe auch nicht Schuld an den Konflikten zwischen den Polen und den Ukrainern, sondern nur die Jesuiten (also die Kirchenpolitik). Er hoffte (anders als Alexander Puschkin, der »alle slawischen Flüsse ins russische Meer fliessen« sah!) auf die Gleichberechtigung aller Slawen in »einem Meer, in dem alle Slawen Brüder und Söhne der Wahrheit sind«, wofür er das Einstehen von Jan Hus für die von ihm erkannte Wahrheit als Symbol verstand. Frank verweist aber auch auf die frühe ukrainische Rezeption von Impulsen der Kirche der Böhmischen Brüder , die sich auf Hus gründeten, wie die von ihren Bischöfen Jan Blahoslav (16. Jh.) und Jan Amos Komensky (17. Jh.).
Literarische Bezüge auf Hus geschehen oft in Vermittlung tschechischer Autoren, die sich mit Hus befassen, wobei das Motiv des Opfers im nationalen Sinne zugleich religiös überhöht wird. So wird bei Svatopluk Machar die »Mutter von Hus« als Sarah gesehen – Hus somit als Isaak. Dessen Bereitschaft zum Opfer ist mit göttlicher Verheissung verbunden, die nun der Nation gilt.
V Tschechien: nach Verdammung Heiligung, nach Vergessen Vereinnahmung
Allenthalben hatte die Forschung spätere einseitig nationale Darstellungsweisen zu revidieren. Übergehen wir zunächst die sofort nach seiner Hinrichtung einsetzende Weiterentwicklung der hussitischen Bewegung: sie führte einerseits zu vergeblichen Kreuzzügen gegen die sich radikalisierenden »Taboriten« und wiederum deren Raubzügen in Mitteleuropa, andererseits zur Bildung einer eigenen utraquistisch-katholischen Landeskirche auf der Basis der »Prager Kompaktaten«, deren Anerkennung durch das Basler Konzil (wenn auch nicht durch die Päpste) erlangt werden konnte. Hier war Jan Hus geradezu in den Status eines Märtyrer-Heiligen erhoben worden, bei unterschiedlicher Deutung seines Erbes, einschliesslich der Entstehung eines weiteren Zweiges, der Kirche der Böhmischen Brüder. Diese sich positiv aus Jan Hus beziehenden Arten der Rezeption wurden brutal unterbrochen durch die Massnahmen einer radikalen Rekatholisierung seit der Schlacht am Weißen Berg 1620 und der daraufhin erlassenen Erneuerten Landesordnung.13
Hatte man ihm noch 1541in der Böhmischen Chronik des Wenzel Hajek von Libotschan, wenngleich Häretiker, gute Absichten zugestanden, so wurde er nunmehr völlig ins Vergessen abgedrängt. Erst in der Phase der Aufklärung und der josephinischen Reformen wurde er von Kaspar Royko (1744-1819) in seiner Geschichte des Konzils von Konstanz wieder verteidigt. Dann würdigte der grosse tschechische Historiker Franz Palacký (1798-1876) ihn in seiner »Geschichte Böhmens« (1836, tsch. 1845) als tschechischen Nationalhelden – in der Tat hatte er ja wesentlich die tschechische Sprache und ein frühes böhmisches Selbständigkeitsbewusstsein gefördert, auch wenn die Znesur eien Dadellng einzuschränken versuchte. Überhaupt sah er im Hussitentum den Höhepunkt der tschechischen Geschichte und ordnete wiederrum Hus in die gesamteuropäischen Auseinandersetzungen zwischen Katholizismus und dem entstehendem Protestantismus ein. Zugleich veröffentlichte er eine grundlegende Sammlung von Quellen zu Hus und seinem Prozess. Und das von Palacky begründete Bild von Jan Hus spiegelte sich in den Romanen von Alois Jirasek und fand so breite Resonanz. Auch wenn der Historiker Konstantin von Höfler, selbst Konvertit, Hus in einer Mischung aus moralischen und deutsch-nationalen Argumenten herabzusetzen suchte, wurde er zunehmend Protagonist im Kampf um tschechische Unabhängigkeit in einer erhofften Föderalisierung der Donaumonarchie– eine Hoffnung, die durch den österreichisch-ungarischen »Ausgleich« von 1867enttäuscht wurde. Die 500-Jahrfeier zur Erinnerung an das für 1369 angenommene Geburtsjahr von Hus brachte in seinem Geburtsort eine bedeutende öffentliche Manifestation mit sich, in der er als nun nationaler Märtyrer gefeiert wurde. Zunehmend wurde aber nun der militärische Führer in den Hussitenkriegen Jan Żiżka in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und nationale Ziele verbanden sich mit den sozialen, so dass sich Arbeitervereine, ja das ganze tschechische Volk als Erben der »Gotteskrieger« betrachten sollten.
Inzwischen waren weitere Quelleneditionen erfolgt und bedeutende Biographien von Václac Flajšhans, Jan Sedlák und Václav Novotný erschienen. Schliesslich wurde Hus als Vorkämpfer für Fortschritt und Demokratie gesehen und ein Verein erkämpfte, lange gegen die österreichische Regierung, für die Errichtung eines Mahnmals auf dem zentralen Ort, dem Altstädter Ring, dessen Grundsteinlegung an seinem Todestag, dem 5. Juli, 1903 erfolgte – geschaffen von dem Bildhauer Saloun fand de Errichtung am 500. Todestag statt, bereits während des 1. Weltkriegs. Für Tomáś Mazaryk, den ersten Präsidenten der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik, war Hus vollends »die ideale Identifikations- und Integrationsfigur für die Frage nach dem Sinn der eigenen Nationalgeschichte« (Krzenck).
Umgekehrt war Hus dann für den tschechischen Kommunismus der Vorläufer einer sozialistischen Gesellschaft, ging doch nach Zdenek Nejedlý «von der Bethlehemskirche die erste Sozialrevolution der Welt aus« (die das Regime auch als Bau wiederherstellte). Diese Sicht wurde erfolgreich popularisiert durch den mit grossem propagandistischen Aufwand hergestellten Film von Otakar Vavra (1953). Sie wirkt bis heute in der weitgehend entchristlichten tschechischen Gesellschaft nach, wie die allenthalben geringe Kirchenmitgliedschaft und das mangelnde öffentliche Wissen Umfragen gemäß selbst im Jubiläumsjahr des Jan-Hus-Gedenkens zeigen.
Selbstverständlich war bereits in diesen Jahren eingehende Forschung im Gange, die Hus auch in seiner kirchlichen Verwurzelung darstellte. Hierbei ist der der erst seit 1918 wieder zugelassenen Kirche der Böhmischen Brüder entstammende und überwiegend in Italien an der Waldenserfakultät für Theologie lehrende Kirchenhistoriker Amedeo Molnár hervorzuheben, der Hus wiederum mit Geistesverwandten unter Vorläufern kirchlicher Reform-Bemühung wie den Waldensern in Verbindung brachte, ebenso wie mit seinen Nachfolgern gerade auch unter den Böhmischen Brüdern. Und seit wenigen Jahrzehnten ist, wie oben angedeutet, jene neue Bemühung um tieferes Verständnis für die zeitgegebenen Umstände und der darin verankerten und zugleich aus ihr herausragenden Persönlichkeit von Jan Hus auch im römisch-katholischen Bereich in Tschechien erfolgt, das eingangs erwähnt wurde und bereits zu bemerkenswerten Ergebnissen und Symbolhandlungen geführt hat.
VI Polemiken aus deutsch-nationaler Sicht
Auch deutsche Historiker des 19. Jh. liessen sich nationalistische Verzerrungen zuschulden kommen. So meinte Konstantin von Höfler im 19. Jh., nachdem doch in den Jahrzehnten nach der lutherischen Reformation Hus in Deutschland so hochgeschätzt war und Teile seiner Schriften ediert oder sogar übersetzt worden waren, Hus auf einmal undifferenziert als Deutschenfeind ausmachen zu müssen. Wo er das doch im übrigen keineswegs generell war. War doch erkennbar, dass seine Notizen, an Wiclif-Kopien von ihm angebracht, wie »Haha, die Deutschen!« speziell den deutschsprachigen Magistern und Theologen galten, die sich den Wiclifschen Anfragen verweigerten. Und hatte doch seine Unterstützung des »Kuttenberger Dekrets« nicht nur ethnische, sondern durchaus auch theologische und universitätspolitische Gründe. Und hat er nicht auf seinem Zug durch Franken und Schwaben nach Konstanz das aufgeschlossene Interesse der Deutschen an seiner Theologie und an seinen Reformforderungen erlebt und, selbst überrascht, dieses die Deutschen rühmend, ausgesprochen und ihnen zugute gehaltemn? Zumal er im Bann stand und doch von niemandem attackiert wurde.
In anderer Weise suchte der deutschsprachige mährische Historiker Johann Loserth ihn herabzusetzen. Als Wiclif-Forscher ging er der Übernahme von Wiclifschen Texten bei Hus nach, die in der Tat etwa in der Kirchen-Schrift »De ecclesia« erheblich sind. Er würdigte jedoch nicht diesen im Mittelalter generell üblichen wissenschaftlichen Stil, sich in solcher Weise an eine Autorität anzuschliessen, sondern versuchte Hus seine geistliche Eigenständigkeit abzusprechen,was ebenfalls als widerlegt gelten muß.
Die auch sonst gerne in der national orientierten Literatur gebrauchte Markierung von Jan Hus als Deutschenfeind oder gar Deutschenhasser (trotz seiner engen Zusammenarbeit mit deutschen Mitstreitern wie denen aus der sog. Prager »Dresdner Schule«!) stand im Dienste einer Herabwürdigung tschechischen oder allgemein slawischen Geistes. Sie erfuhr freilich ihre für die in Böhmen seit je wohnhaften Deutschen schmerzliche Umkehrung am Ende des NS-Regimes über das »Protektorat Böhmen-Mähren«. Hier nun wurde die angebliche Deutschenfeindschaft von Jan Hus, die so gar nicht stimmte, aber auch in der deutschen Literatur immer wieder behauptet wurde, zum zusätzlichen Pseudo-Argument, die Vertreibung der Deutschen aus dem Lande zu legitimieren.
VII Nachkonziliare Abwehr – reformatorische Rezeption
Der Hauptstrang der nach-konziliaren nicht-hussitischen Literatur übernimmt das konziliare Verdikt »Ketzer« – und in der Regel mit allen Konsequenzen, die das gemäss Pater de Vooght mit sich brachte. Beachtlich ist allerdings der Bericht des humanistisch gesonnenen Papst-Sekretärs Poggio Fiorentino (Poggius Florentinus)14 welcher ihm höchste persönliche Anerkennung ob seiner Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit nicht versagen wollte, auch wenn er im Glauben geirrt habe, wie er mit dem Konzil meinte. Seine Anerkennung für Hus gleicht geradezu der des Hus-Schülers und Begleiters des Ritters Chlum, der den wesentlichen Augenzeugenbericht erstellt hat, Peter von Mladonowice. Ganz im Gegensatz dazu steht die gehässige Darstellung in der bekannten, dass Gesamtbild des Konzils wesentlich prägenden Chronik des Ulrich von Richenthal, der, an den theologischen Themen kaum interessiert, gleichsam die Stimmung des Stammtisches reproduziert. Doch selbst Enea Piccolomini, bald danach Papst Pius II. »zeigte sich zwar in humanistischer Manier von Hussens Standhaftigkeit durchaus beeindruckt«, auch wenn er »nicht im geringsten« daran zweifelte, dass Hus Häretiker gewesen sei. Seine Darstellung in der Historia Bohemica (1458) prägte weithin das Bild ausserhalb Böhmens, so dass sie selbst von der utraquistischen Kirche ins Tschechische übersetzt wurde.
Der Kampf um eine neue Sicht auf Johannes Hus ging dann über in die reformatorische Bewegung, die Martin Luther in Wittenberg auslöste.
Hier sei vorerst nur erwähnt, dass Martin Luther sich mehrfach zu seinem Verhältnis zu Jan Hus geäussert, wobei er sich zunächst geradezu mit ihm identifiziert hat, wenn er sich auch später differenziert geäussert hat. Er gab die wichtige Schrift »De ecclesia« heraus. Später bevorwortete er Briefe von Hus, die Johann Agricola übersetzt hatte.
Kritik ist aber weithin auch an der Sicht auf Jan Hus in den evangelischen Kirchen, zumal in Deutschland, zu üben. Einerseits hat hier die im 16. Jh. stattgefundene Reformation15 durch Luther selbst Hus gewürdigt, sich auf ihn berufen und positiv an ihn angeschlossen. Andererseits wurde ein Bewusstsein seiner Überbietung entwickelt, die Hus im 19. Jh. zu einem »Vorreformator« neben anderen abwertete16. Nicht wurde dabei berücksichtigt, dass er letztlich eine pastoral gereinigte mittelalterliche Kirche mit ihren Sakramenten als Ziel der Reform vor Augen gehabt haben dürfte, die ihn mit der Konzeption einer »Altkatholischen Kirche« und den Reformvorstellungen heutiger Reformdebatte in der römisch-katholischen Kirche nicht weniger verbindet als in unterschiedlicher Weise mit den evangelischen Kirchen verschiedener Couleur.
So dürfte es heute in einer neuen Begegnung mit Jan Hus um zweierlei gehen: einerseits darum, seine eigenen Anliegen »sine ira et studio« zu erfassen und zu würdigen. Anderseits sollten der Erkenntnisweg und der Erneuerungswille von Jan Hus angesichts einstiger kirchlicher Missstände und Schwachstellen sowie zentral, theologischen Korrekturbedarfs heute von uns in ökumenischer Offenheit geprüft werden auf seine ökumenischen Potentiale hin. Das dürfte einseitige Verurteilungen ebenso überflüssig machen wie allzu parteiliche Inanspruchnahme.
Wenden wir uns somit dem Versuch zu, aufgrund neuerer Forschungsergebnisse und zugleich im Angesicht heute erkennbarer ökumenischer Selbstkorrekturen und der Herausforderung zu neuen Wegen Jan Hus selber auf seinem Weg zu begleiten. Dabei werden uns unsere eigenen Fragestellungen leiten. Doch sollten sie uns nicht zur Vereinnahmung verleiten.
B Der Weg des Jan Hus – Prediger der Reform des Lebens, der Theologie, der Kirche
I Aufstieg an der Universität, Erfolg und Anerkennung als Reformprediger
Jan, geboren »um« 1390, heisst es, aus wenig bemittelter, obgleich nicht ganz armer Familie, erhielt , wohl durch Freunde unterstützt, die Möglichkeit, im benachbarten Städtchen mit Gymnasium zur Schule zu gehen, was ihm das Anstreben des Priesterberufs erlaubte. Er selber erklärte, dass er das auch tat, »um eine gute Kleidung und Wohnung zu haben und von den Menschen geschätzt zu werden«17.
Vor einer Generation hatte Karl IV. in seiner Residenzstadt die erste Universität im Hl. Römischen Reich nördlich der Alpen, gegründet. Die Carolina, sogar mit einer theologischen Fakultät ausgestattet, war rasch aufgeblüht, international attraktiv. Schnell durchlief der hoch Begabte die Stadien des Studiums der »Künste« und erlangte 1396 den Magister-Grad, mit Lehrbefugnis.
Wohl zwei Jahre später, 1398, beginnt er das Theologiestudium (das er bis zum Baccalaureat führt, wenn auch nicht zum Doktorat wegen seiner vielfältigen Predigertätigkeit). 1400 erlangt er die Priesterweihe und ist schon als Geistlicher tätig, doch lehrt er weiter an der Artistenfakultät und wird dort 1401 Dekan; 1409 für ein Semester Rektor der Universität im ganzen. 1402 beginnt seine bedeutsame Predigertätigkeit an der Bethlehem-Kapelle, die sich über zehn Jahre hin erstreckt. Der junge, reformfreudige Erzbischof Zbynko ernennt ihn zum Synodalprediger – dieses Amt übt er mehrere Jahre aus, indem er die auch von diesem mißbilligen Missstände im kirchlichen Leben geisselt .
Dann wird er davon abgesetzt, 1408 – die Kollegen fingen an, sich zu wehren. Sie halten ihm öffentliche Herabwürdigung der Priester und der Kirche vor. Nicht dass es bislang ohne Konflikte um seine Kirchenkritik abgegangen wäre. Doch nun beginnen gravierendere.
Zu ihrer Erklärung müssen mehrere Faktoren betrachtet werden. Sie sind auf verschiedenen Ebenen gelagert und wirkten in unterschiedlicher Weise auf den Weg und die Konflikte ein, in die Jan Hus geriet:
- die politische und soziale Lage im Lande und interne Kirchenkritik
- das Verlangen nach der tschechischen Volkssprache
- ethnisch-kulturelle Konflikte in der Stadt Prag und an der Universität
- die aus England einströmende Theologie von John Wyclif
- bald auch die wechselnde Positionierung des böhmischen Königs Wenzel
- das Papstschisma und seine Auswirkung auf Erzbischof und König
- der Ablassstreit, in dem er in Konflikt mir König Wenzel geraten war, und
- und die Umstände der Initiative von König Sigmund gegen das Schisma.
II Kirchen- und Sozialkritik im Land und die glänzende Hauptstadt Prag
Böhmen, als westslawisches Territorium war nach erster auch byzantinischer Mission (die Prager Kyrill- und Metod-Kirche erinnert bis heute daran) bald in den Einflussbereich der abendländisch-lateinischen Kirche gelangt. Kaiser Heinrich IV. verlieh dem Przemislidenfürst Vratislav II, der ihn im Investiturstreit unterstützt hatte, 1085 die Königswürde. Schnell erhielt der Markt Prag Zulauf von deutschen und jüdischen Kaufleuten. Kaiser Karl IV., aus dem Hause Luxemburg, böhmischer König seit 1347, hatte hier 1348 die nach ihm benannte Universität, Carolina, gegründet, »auf dass die Bewohner Böhmens, die es nach der Frucht der Wissenschaft unaufhörlich dürstet, im eigenen Land den Tisch gedeckt finden, ohne genötigt zu sein, in fremden Ländern zu betteln«18 . Darüber hinaus baute er seine Residenzstadt prachtvoll mit Hilfe so prominenter Baumeister wie der Parler aus Schwäbisch Gmünd aus: die Karlsbrücke und den Veitsdom, so dass bald vom »Goldenen Prag« die Rede war. Und er verzichtete auf Feldzüge nach Italien, um Rom einzunehmen, was Petrarca bedauerte. Denn er verlegte den Mittelpunkt des Reiches hierher, also erstmals in den Osten des Reichs. So gewann die Stadt große Attraktivität für Studenten wie für Handelstreibende aus dem ganzen Reich und den benachbarten Ländern. Er erweiterte sie durch die Gründung der Neustadt, wo sich zahlreich Handwerker ansiedelten.
Schon 1344 war Prag, früher Mainz zugeordnet, zum selbständigen Erzbistum erhoben worden. Ernst von Pardubice, erster Erzbischof, drang auf korrekte Sitten. Doch gab es intern heftige Kirchenkritik bereits seit zwei Generationen. Kaiser Karl hatte den bei Predigten Aufsehen erregenden österreichischen Prediger Konrad von Waldhausen nach Prag geholt, der die Steuerfreiheit des Klerus und die für den Reichtum ihres Ordens bettelnden Mönche kritisiert hatte – Symptom für die sozialen Spannungen im Lande. Denn der Klerus hatte erheblichen Landbesitz, und durch den wachsenden Reichtum der städtischen Patrizier war Spekulation um Land und Boden in Gang gekommen. Waldhauser war schon aus solchen Gründen der Häresie angeklagt worden, nach Rom zitiert, doch von Karl vor Prozessende heimgeholt worden. Er verstarb vor seiner Verurteilung. Auch sein ursprünglicher Hofkanzler, Konrad Militsch aus Kremsier, wurde zum Reformprediger. Dies predigte bereits in tschechischer Sprache im flachen Lande. Dann begründete er eine Sozialinitiative in der Stadt, Unterkunft für verfemte Frauen, genannt »Jerusalem«. Auch er wurde vom Stadtklerus der Häresie angeklagt, wogegen er sich – er in Avignon – vor der Kurie verteidigen konnte; er starb 1374. Der Laie Tomas Stitny, der ebenfalls Tschechisch schrieb, Traktate für das christliche Leben in der Familie, ein früher Vertreter der Literatur in der Landessprache, war sein Schüler.
Ebenso war es der Theologe Matthias von Janov. Dieser stellte die Heilige Schrift als Exeget heraus und hob ihre normative Bedeutung für Glaube und Lehre hervor. So kritisierte er die Heiligenverehrung und stellte die Rolle des Bischofs von Rom in Frage – Christus sei das Oberhaupt der Kirche. Zugleich förderte er eine Intensivierung der Abendmahlsfrömmigkeit, und das bereits unter beiderlei Gestalt. Auch er blieb nicht verschont vom Häresievorwurf (den man gerne schnell zur Hand hatte), zumal er auch den Waldensern nahestehende Positionen zu vertreten schien. So erhielt er Predigtverbot. Er starb, als Jan Hus Baccalaureus der Freien Künste wurde, 1393.
Das Stichwort Waldenser muss hier kurz aufgegriffen werden. Vermutlich waren es aus Südfrankreich oder Norditalien Vertriebene und zumal in Südböhmen Eingewanderte aus dieser Armuts- und Laienbewegung, die sowohl die hl. Schrift wie das Recht zur Predigt für alle, anfangs auch Frauen, in Anspruch nahm, was die Amtskirche nicht dulden wollte. So wurde in der Mitte des Jahrhunderts bereits in Böhmen inquisitorisch nach ihnen geforscht.19 Sie stellten vorbereitend das Bewusstsein für manche Fragen her, die dann sich mit dem erwachenden Interesse an der Predigt in der Muttersprache verbanden, welche schon Milic gepflegt hatte. Er hatte sogar volksnahe Predigerschulen begründet. Und mit seiner umfangreichen exegetischen Arbeit an der Hl. Schrift und schliesslich der Forderung nach dem Vorrang der Schrift auch in den kirchlichen Strukturfragen erreichte das Reformverlangen durch Mathias von Janov seinen ersten Höhepunkt vor Jan Hus.
Es scheint, dass eine komplizierte Gemengelage besteht. Einerseits, weltlich, wachsende Dominanz von durch den Aufstieg des Landes begünstigtem Adel und städtischem Patriziat (dieses war zumeist deutschsprachig), andererseits , kirchlich, ebenfalls wachsender Reichtum und zugleich zumal in Prag ausufernde Präsenz von an Versorgung durch Ämter und Privilegien orientierten Klerikern20. Auch die Bettelorden wurden zunehmend als lästig empfunden. Gleichzeitig bestand aber Unterprivilegierung bis Verarmung besonders der ursprünglich einheimischen tschechisch-sprachigen Bevölkerung.
Mit dieser Situation wurde Jan Hus zunehmend konfrontiert, zumal seit 1402, als er an die Bethlehemskapelle berufen wurde. Sie war durch eine Stiftung eigens der tschechisch-sprachigen Predigt für das »Volk« gewidmet worden. So wuchs er zum Sprecher einer theologisch begründeten Kritik an den kirchlichen Missständen heran, die dem im Volk schwelenden Unbehagen die Sprache verlieh.
Dies ging dennoch lange konform mit anderen kirchlichen Reformbemühungen, einschliesslich denen des amtierenden Erzbischofs Zbynko von Hasenburg. Der hatte eine penible Untersuchung über die sittlichen Zustände beim Klerus durchführen lassen und war durchaus mit der Kritik von Jan Hus und anderer Prediger einverstanden. So kritisierte man die Erhebung überhöhter oder kanonisch verbotener Gebühren, vielfache Trunksucht und Missachtung des Zölibats. Dies trug Hus als Synodalprediger seinen Priesterkollegen vor, wozu er auch berufen war.
Parallel dazu predigte Hus – es war ein jährliches Deputat von mehr als 200 Predigten, das er leistete! – vor seinen bis zu dreitausend Hörerinnen und Hörern öffentlich, und befasste somit auch die »Laien« damit. Und wenn er dies deutlicher tat als andere, so übte er doch zunächst noch keine grundsätzliche Kritik am kirchlichen System. Das änderte sich zunehmend. Wie ist es dazu gekommen ?
Hier muss nach den kulturellen und kirchlich-sozialen Aspekten21 der Blick auf die Entwicklung neuer theologischer Positionen gerichtet werden, auf die er sich zusammen mit andern Reformern berief. Daraus entwickelten sich kirchliche Parteiungen. Deren Auseinandersetzungen verknüpften sich mit der Politik im Lande und im Reich, und wie auch diese selber mit der grossen Kirchenpolitik. Denn dies alles spielt sich in einer dramatischen Situation ab. Standen doch in einem »Grossen Schisma« drei amtierende Päpste gegeneinander. Dadurch war die Kirche in Obödienzbereiche zerfallen, die sich jeweils einem der schmismatischen Päpste zuordneten und ihnen damit eidlich zum Gehorsam verpflichtet waren. Dieses Übel hatte zur Folge, dass nun in ganz Europa die Bemühungen um die Beilegung dieses Schismas liefen. Hierzu mussten sich auch die in Böhmen entstandenen Kirchenparteien verhalten. Eine von ihnen, diejenige, der Jan Hus zugehörte, bezog sich wesentlich auf theologische Positionen, die der englische Theologieprofessor John Wyclif entwickelt hatte.
III Das 14. Jh.: Ansprüche des Papsttums – Entwicklungen in der Theologie
Hingewiesen werden muss hier auf Entwicklungen im Papsttum, die von den verschiedensten Seiten zu verschärfter Kritik an diesem führten. Um die Jahrhundertwende hatte Bonifaz VIII. (1294-1303), ein »unbeherrschter Tyrann, gehässiger Autokrat, ein extrem an schrankenlosem Hochmut, Masslosigkeit, Machtgelüst und dazu Theatralik«22 , der sich erdreistete die Laien als Feinde des Klerus zu beschimpfen, die Ansprüche des Papsttums in der Bulle »Unam sanctam« (1302) auf den Gipfel getrieben: jede Kreatur und die gesamte weltliche Macht müsse dem Papst untertan sein23. Das Papsttum war unter seinen Nachfolgern in die Abhängigkeit der französischen Krone gelangt, mit Sitz seit 1309 in Avignon. Es begann mit Klemens V. « die achtundzwanzig Jahre währende, unheilvolle Zeit des sog. babylonischen Exils der Kirche« und »jener die Empörung des christlichen Abendlandes bildende Luxus des Hofes von Avignon mit allen Begleiterscheinungen von Ämterschacher, Korruption und Nepotismus« (schon unter Klemens V., 1305-1314 ) sowie die Steigerung der Einnahmen durch eine »ärgerniserregende Steuerpolitik« (Johann XXII., 1316-1334). Es sei erinnert, dass zeitgleich Dante seine »(Divina) Comedia« (ab 1307) mit viel Papstkritik schrieb, und da er die Idee des Papsttums reinigen wollte, alle drei genannten Päpste dem Inferno zuweist.
Wandlungen der Theologie in jener Zeit können an drei Namen, die mit Oxford verbunden sind, verdeutlicht werden. Für Jan Hus wurde am bedeutsamsten John Wyclif (1330-1384) – »neben Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua der schärfste Vertreter umfassender Kritik an Leben, Verfassung und Lehre der spätmittelalterlichen Kirche«24 – war Professor in Oxford. Dort befand sich einer der Hauptorte der franziskanischen Generalstudien, wo zuvor auch der berühmte »Doctor subtilis«, Duns Scotus (1265-1308)25, gelehrt hatte, der Meister »subtiler« Dogmenanalyse und –verteidigung, in einer Zeit, in der sich zunehmend die Frage stellte, ob die durch Thomas von Aquin (gest. 1274 ) erreichte Synthese von »Vernunft und Glauben« und das durch sie gestützte Kirchensystem Bestand haben konnte. Der Dominikaner Meister Eckhart hatte den Weg in die Mystik gewiesen. Er war dafür bereits vor das Tribunal bestellt (und noch vor seiner Verurteilung gestorben).
Zudem hatte in Oxford auch Wilhelm von Ockham (1285-1349)26 gelehrt, ebenfalls Franziskaner. Ihm genügte die Dialektik des Duns Scotus nicht mehr. Er ging vollends über die bisherige Hauptrichtung der Theologie, welche die Philosophie des Aristoteles rezipiert hatte, die damit Grundlage der theologischen Begrifflichkeit war war, hinaus. Er war der Begründer einer neuen Philosophie, der erkenntnistheoretischen Schule des Terminismus oder Nominalismus. Demnach sind, anders als es die unmittelbar vorausliegende ältere Theologie (bis Thoma von Aquin und noch Duns Scotus) voraussetzte, die termini oder die nomina, d. h. die Begriffe, reine Verstandesgrössen un d können somit nicht die Wirklichkeit selber abbilden. Daher waren auch die bisherigen, vernunftgegründeten Gottesbeweise nicht mehr stichhaltig, der Glaube war auf das Vertrauen in die göttliche Offenbarung angewiesen. Man sprach von der »via moderna« gegenüber der »via antiqua«. Deren Vertreter bekämpften ihn. Der Kanzler der Universität, ein Anhänger des Thomas von Aquin, zeigte Ockham wegen Untergrabung der Dogmen an. Dennoch setzte sich seine Position, der Nominalismus bald allgemein durch.
Ockham wurde nach Avignon an die Kurie zu Johannes XXII. zitiert, von wo er, um der Hinrichtung zu entgehen, zusammen mit dem Ordensgeneral der Franziskaner Michel von Cesena (der mit der Kurie in einem anderen erbitterten Streit, dem um die Finanzpolitik lag) und Marsilius von Padua zum (vom Papst exkommunizierten) Kaiser Ludwig dem Bayern nach Pisa und dann München floh, nunmehr als Feind der Kirche selbst exkommuniziert. Er vertrat die Eigenständigkeit der weltlichen Macht wie Marsilius von Padua, der zudem eine modern anmutende politische Theorie einer Art Volkssouveränität entwickelte, die auch für den geistliche Bereich Sprengkraft besass.
Einen ganz andern Weg in Philosophie und Theologie und so der Erneuerung der Kirche ging John Wyclif.
Er kritisierte, 150 Jahre nach dem IV. Laterankonzil 1215, dessen wesentliche Festlegungen zur Lehre von der Eucharistie (die sog. »Transsubstantiations«-Lehre). Diese hatten Auftrag und Selbstverständnis der Priester entscheidend beeinflusst, ja verändert: sie waren nun »Messpriester« mit der Vollmacht, durch ihr Wort die »Transsubstantiation« der Elemente in Leib und Blut Christi herbeizuführen, eine Vollmacht, die nunmehr als heilsnotwendig und in ihrer Funktion unersetzlich betrachtet wurde, was den Status der Kleriker ins Überirdische anzuheben schien. Wyclif widersprach dieser Lehre, einer erst durch die damals erfolgte Rezeption aristotelischer Philosophie in der Kirche möglich gewordenen dogmatische Formulierung (»Substanz« ist ein aristotelischer Fachbegriff). Er selber griff auf die alte, eher platonische Konzeption der Philosophie zurück, nämlich den philosophischen sog. »Realismus« (wonach die »Ideen«, die »Grundbegriffe« wie »Brot«, selbst Realitäten darstellen, christlich verstanden: im göttlichen Gedanken dazu). Womit für ihn so etwas wie »Trans-Substant-iation« gar nicht möglich ist. Wyclif, wie dann seine Anhänger, bestand somit auf der »Remanenz«, dem »Bleiben« der Brotsubstanz beim Sakrament, dem sich die Bedeutung »Leib Christi« beifügt. Bei dem dogmatischen Streit handelte es sich also zuvor um einen philosophischen. Dieses Denken der unmittelbaren Wirkung des Göttlichen im Weltlichen erübrigte für Wyclif auch Kulte mit Reliquien und Heiligen. Auch der Vergleich mit der Urkirche führte zur Ablehnung der dort nicht nachweisbaren prunkvollen Kirchenhierarchie mit dem in Anspruch genommenen Recht auf Besitzungen, die er staatlicher Verfügung zuwies. Auch regte Wyclif die Bibelübersetzung in der Sprache des Volkes an, die später von Tyndale besorgt wurde.
Was die Kirchenfrage fundamental betraf, war jedoch die Tatsache, dass er an den Kirchenvater Augustinus anknüpfte, über die Mittelalter-Entwicklungen hinweg. Mit der Berufung auf dessen Prädestinationslehre, wonach die Menschen im ewigen Ratschluß Gottes »prädestiniert« sind – als Gerettete oder »vorhergewusst« (als »praesciti«) als Verdammte – erschütterte er die Selbstgewissheit der Kirche, die auf ihre Vollmacht der Gnadenvermittlung baute, welche den Gläubigen das Heil eröffnete oder verwehrte. Er forderte die Kirche auf, »das päpstliche Antichristentum« 27(Brummer 37) abzulegen. Von einer englischen Regionalsynode verurteilt, starb er im Schutz der Krone unbehelligt 1384, welcher andere seiner Positionen genehm waren, die den auch dort großen Landbesitz der Kirche kritisierten.
IV Warum betraf das auch Böhmen und wie wirkte es hier?
Es gab eine dynastische Verbindung des böhmischen Königshauses mit England: 1382 heiratete Karls IV. Tochter Anne, eine Halbschwester von Wenzel, mit 16 Jahren den gerade 15 Jahre alten neuen König Richard II. von England – eine vermutlich noch von Karl selber eingefädelte politische Liäson. Das führte dazu, dass Wyclifs in England verbreitete, wenn auch schon verurteilten Gedanken schnell an die Prager Universität gelangten. Dort haben die einzelnen Aspekte, je nach Interessenlage, großes Interesse ausgelöst. Sie betrafen ja Fragestellungen, die in Böhmen ebenfalls virulent waren: der ausufernde kirchliche Landbesitz, die Steuerfreiheit des Klerus usw. – dies betraf die Politik ebenso wie die Kirche. Die Kirchenreformer aber sahen sich in ihrer zunehmenden Orientierung an der Hl. Schrift bestätigt und erkannten einen theologischen Ansatzpunkt, die maßlose Selbstsicherheit, ja Arroganz der kirchlichen Macht zu erschüttern, die diese gegenüber jeder ernsthaften Forderung auf grundlegendere Reform zeigte. Die Gegenwehr blieb nicht aus.
Zunächst hatten Wyclif’sche Texte Jan Hus und andere bereits in den späten 90er-Jahren erreicht, und er studierte sie intensiv, schrieb sie ab und notierte zustimmende Ausrufezeichen und Bemerkungen an den Rand – (»Ha, die Deutschen!« – gemeint war die Mehrzahl der deutsch-sprachigen Magister und Professoren, die dem entgegenstanden28). Ab 1403 erfolgte eine weitere Überlieferung Wyclif’scher Haupttexte durch den künftig wichtigsten Mitstreiter von Hus, den hoch gelehrten und aktionsbereiten Hieronymus von Prag. Zuvor hatte lange ein Lehrer Hus‘ an der Artistenfakultät, Stanislaus von Znaim, die Wyclif-Rezeption besonders unter böhmischen Magistern angeführt. Bei den deutschsprachigen und auch sonst waren es vor allem die Theologen, die Wyclif widersprachen. Daraus entwickelte sich ein »Streit der Fakultäten« – und dieser verhakte sich mit einem Streit der »nationes«.
Die Universität29 war nämlich nach vier »nationes« gegliedert – deren drei waren deutsch-sprachig, doch war die Herkunftsangabe eher geographisch als politisch gemeint. Die Polen (mit den Schlesiern), die Sachsen, die Bayern waren (zumeist) deutschsprachig, und besonders die Polen und Sachsen waren zunehmend stärker geworden30; die Böhmen (zumeist) tschechisch-sprachig. Wissenschaftlich galt selbstverständlich für alle das Latein. Nun hatten bislang alle vier »nationes« je eine Stimme – und das wurde 1409 von König Wenzel geändert. Durch sein sog. Kuttenberger Dekret 1409 erhielten die Böhmen drei Stimmern, die anderen drei zusammen nur eine. Es geschah nach böhmischen Klagen, bei Pfründenvergaben benachteiligt zu sein.31
Dies alles hatte insofern mit Wyclifs Theologie zu tun, als gerade zumeist die Böhmen, und hier die Magister und Professoren der Artistenfakultät, sie rezipiert hatten. Soukup sieht das auch unter dem Aspekt, sich gegen die fremdländischen Gelehrten wie auch gegen die Vormacht der Theologen zu profilieren. So wurde hier seit 1402 Wyclif in öffentlichen Disputationen verteidigt, und auch weiterhin, nachdem die Theologenfakultät ihn 1403 verurteilt hatte, auch bald gegen den Willen des Erzbischofs, zugleich Kanzler der Universität, da man die akademische Freiheit zur Disputation verteidigte.
Die Gegner, zumeist aber nicht nur, deutschsprachig, standen mehrheitlich philosophisch auf dem Boden des sog. »Nominalismus«, der, bereits nach-aristotelisch, sich mit der dogmatisch festgelegten Theologie besser vertrug. Diese anderen zogen mit vielen Studenten nach dem Erlass des Kuttenberger Dekrets unter Protest aus der Prager Universität aus, teils nach Krakau oder andere jüngere Universitäten, die Mehrzahl nach Leipzig. Sie gründeten dort die erste sächsische Universität. Womit sie nicht aus der Welt waren.
Denn, dies alles sollte sich wenige Jahre später in Konstanz im Prozess gegen Hus geltend machen, der jetzt als der hauptsächlicher Vertreter von Wyclif galt (obgleich er auch deutsche Unterstützer hatte). Seine Gegner, solche aus Prag selber zusammen mit denen aus allen möglichen anderen Universitäten, denunzierten und bekämpften Hus nun als Ober- Wyclifiten. Nachdem das Konzil dann 1415 – wir greifen kurz vor – Wyclif formell zum Ketzer erklärt hatte, noch vor dem Prozess gegen Hus, war aber der Vorwurf, Wyclifit zu sein, in höchstem Masse gefährlich. Dabei werden wir sehen, dass sich Hus letztlich von Wyclifs zugespitzten Positionen unterschied. Freilich half es ihm nicht. Und während der langjährige wyclifitisch gesonnene Lehrer Stanislaus von Znaim und der Freund Stephan Paletsch 2010 bei der päpstlichen Vorladung zur Anklage wegen »Remanenz« abschwörten und Paletsch ihn nun und bis zuletzt, genau andersherum als einst, ob der Wyclifschen Kirchenkritik attackierte, hatte Jan Hus eine durchaus eigene, ganz und gar johanneische Auffassung (nach Ev. Joh. Kap. 6) vom Geschehen beim Sakrament. Wie er auch letztlich nicht rundum die Unwirksamkeit des Sakraments durch unwürdige Geistliche vertrat, die er vor allem in ihrer Selbstgewissheit erschüttern wollte. So konnte ihm heute Pater Paul de Vooght, der sich um eine Revision der Sicht auf Hus bemühte, bestätigt werden, dass er durchaus als ein guter Katholik und treuer Priester sterben musste. Er spricht ihn vom eigentlichen Häresie-Vorwurf frei, da seine Kirchenkritik wie die Übernahmen von Wyclif pastoral motiviert und interpretiert waren. War doch sein alles beherrschendes Anliegen nach Vooght ein seelsorgerliches: »arracher les hommes au pêché« 32. Vielleicht war er sogar »der beste Priester« seiner Zeit, möchte man denken. Was nicht ausschliesst, dass er zugleich ein guter, vielleicht einer der »besten Protestanten« war.33
V Die Reihe von Konflikten innerhalb Prags bis 1408
1404 hatte Jan Hus sein theologisches Baccalaureat abgeschlossen. Seit 1402 hatte er, der Magister und Professor an der Artistenfakultät (und 1409/10 sogar Rektor) war, zusätzlich seinen Auftrag als Rektor und Prediger an der Bethlehemskapelle mit seiner unermesslichen Predigtarbeit in der tschechischen Muttersprache, bei grosser Begeisterung im Volke. Zudem war er 1404/5 an einer Kommission beteiligt, die im benachbarten Brandenburg das Wilsnack-Wunder kritisch zu begutachten hatte (er schrieb, nachdem er Pilgergeschichten und deren Haltlosigkeit kennengelernt hatte, »De sanguine Christi«: das Blut Christi ist vergeistigt im Himmel und kann nicht auf Erden sein – ausser im Sakrament selber). Als ihn der Erzbischof als Synodalprediger, im Jahr nach seinem letzten Auftritt 1407 mit erneut scharfer Kritik an der Geistlichkeit , zugespitzt gar als Ketzer bezeichnete, geschah es wegen »Wyclifitismus«. Den hatte die Theologische Fakultät bereits 1403 verurteilt hatte, was Zbynko bis dahin auf sich hatte beruhen lassen, was er aber nun, vom Domkapitel und Stadtklerus gedrängt, von der böhmischen Nation, wie bereits von den anderen nationes geschehen, zu unterzeichnen verlangte. In der Sitzung im Mai 1408 werden 45 Sätze Wyclifs vorgetragen, die von den Böhmen zu verurteilen seien – Hus macht den Vermittlungsvorschlag: sie seien nicht ketzerisch auszulegen!34. Zugleich freilich wird der Konflikt weitergetrieben – mit Anzeigen der »Nominalisten« gegen die »Realisten«, und zwar noch bei Papst Gregor XII. in Rom. Mit Vorwurf der »Remanenz«-Lehre. Gerade dieser betraf nicht Hus, sondern die Freunde Stanislaus von Znaim und Stefan Paletsch – unterwegs in Bologna, im Kirchenstaat, der Folter unterworfen, konnten sie auf Intervention des Königs zurückkehren, nun aber den Wyclifismus verlassend.
Doch standen noch ganz andere Fragen im Raum. Es war ein Moment, in dem drei Prätendenten die deutsche Königskrone, und indirekt die Kaiserkrone anstrebten – und es gab vorerst zwei, bald drei Päpste zugleich.35
VI Nationale und weltkirchliche Dimensionen: Hus im Streit zwischen König und Erzbischof – und gegen das Schisma
Was hatte der König für Interessen? Wenzel war als deutscher König seit 1400 von den Kurfürsten abgesetzt , durch die Wahl eines Wittelsbachers, Ruprecht von der Pfalz, ersetzt worden, der nun an Macht verlor, so dass er auf Rückkehr hoffte. Ein Hindernis wäre der bleibende Ruf Böhmens als Ketzerland. Dem musste der König begegnen mithilfe des Erzbischofs. Zudem musste Wenzel sich mit seinem Halbbruder Sigmund, König von Ungarn, verständigen. Beide erstrebten die Kaiserkrone, wohin der Kampf gegen das Schisma sich als Weg anbot.
Von der Universität Paris aus nämlich waren Bemühungen im Gange, die beiden Gegenpäpste (der andere war Benedikt de Luna, in Avignon) zum Rücktritt zu nötigen und durch eine Papstneuwahl durch die Kardinäle beider Lager das seit 1378 schwelende Schisma zu beendigen. Eine Delegation in Prag gewann Wenzel dafür, der sich vom Wechsel Chancen versprach. Dazu mussten die bisherigen Treueidverpflichtungen von Universität und Erzbischof zu Gregor gelöst werden. Dies unterstützten die reformbereiten »Wyclifiten« mit Hus – weshalb es automatisch von den Reformgegnern, samt dem Erzbischof an der Universität von den deutschen »nationes«, abgelehnt wurde wurde. Zbynko erteilt Hus Predigtverbot, wogegen dieser, enttäuscht, um so heftiger reagierte und es mißachtet, von der Öffentlichkeit unterstützt. In dieser Situation ergibt es sich, daß König Wenzel von beiden Seiten umworben, am 18. Januar 1409 die Entscheidung trifft für das schon erwähnte »Kuttenberger Dekret«, das die Stimmen-Verhältnisse an der Universität umkehrt: drei für die Böhmen, eine für alle drei deutschsprachigen nationes zusammen (das sollen ihm die Franzosen empfohlen haben – so sei es auch in Paris« und anderswo (Brummer 81). Es hat den Auszug sehr vieler »Deutscher« zur Folge – doch ist der Weg frei für das Dekret, das den Gehorsam gegenüber Gregor XII. verbietet.
Doch zunächst tagt ein Konzil mit Kardinälen aus beiden Lagern in Pisa vom 25. März 1409 an. Es bringt es fertig, die beiden vorhandenen Päpste, die die Einladung ignorierten, abzusetzen – womit alle Treueide hinfällig waren. Und, sogar: eine neuen Papst zu wählen: Alexander V. Also muß Zbynko zu ihm übergehen- und er »kauft ihn« mit Spenden von Prager Hus-Gegnern derart ein, dass er noch im Dezember 1409 eine Bulle erlässt, die Zbynko ermächtigt, gegen wyclifitische Lehren einzuschreiten, diese Schriften einzuziehen und das Predigen auf bestimmte Kirchen zu beschränken – Bethlehem ist nicht dabei. Hus ist gerade zum Rektor im Winter 1409/10 gewählt!
Erst nach Monaten, veröffentlicht Zbynko seinen Erlaß. Er ordnet den Einzug von Wyclif-Schriften an zur Überprüfung durch eine Kommission, deren Ergebnis feststeht. Hus hatte sich an der Abgabe beteiligt mit dem Bemerken, er würde die Überprüfung dann an der Heiligen Schrift überprüfen . Es folgt die Ankündigung der Bücherverbrennung. Das löst den Protest der Universität aus, auch im Interesse der freien Forschung. Und: mit des neuen Papstes Alexanders Tod (Anfang Mai) sei die Bulle hinfällig geworden. Zusammen mit sieben weiteren Magistern legt Hus gegen den Verurteilungsbeschluß der Kommission Berufung beim neugewählten Papst ein. Der war ein früherer Kriegsherr und Finanzmanager an der römischen Kurie – und ungeweiht: man hatte es vor seiner Wahl schnell nachgeholt. Er hatte schon die Wahl des Vorgängers »gemanaget«.
Der Erzbischof lässt, dessen ungeachtet, 200 eingesammelte Wyclif-Schriften feierlich verbrennen – es sind wertvolle Pergamentbände. Er spricht Exkommunikationen aus, auch gegen die an den Papst Appellierenden, und verhängt, erneut und endgültig, den Bann über Hus – womit er sich in der ganzen Stadt heftigste Gegenwehr zuzog und aus der Stadt fliehen musste. Als schon Aufruhr in der Stadt droht, bittet Wenzel den neuen Papst, »den erschwindelten Bann« gegen Hus (Brummer 93) aufzuheben. Doch war der Erzbischof klüger, pragmatischer: mit erneuerter nennenswerter Geldspende dürfte es ihm gelungen sein, durch den machtvollen Kardinal Odo Colonna (wir werden ihn in Konstanz als 1417 dort gewählten Papst Martin V. wiedertreffen) den frisch gewählten Papst Johannes XXII. zur Erneuerung des Banns zu ermächtigen. Was Zbynko veranlasst, den Bann zu erneuern, der freilich weithin missachtet wird. Noch einmal wendet sich Wenzel an den Papst; und Hus entsendet eine Delegation zur Verhandlung über die Vorwürfe. Odo Colonna lehnt ab.
Nun bemüht sich der König um eine innenpolitische Beilegung des Streits – durch Druck auf den Erzbischof, mit Bereitschaft von Hus, sich für seinen Glauben vor einem Schiedsgericht zu erklären. Hus tut es am 1. September 1411 in der Universität und erklärt, alle Vorwürfe gegen ihn wegen ketzerischer Ansichten seien falsch. Dieses Bekenntnis schickt er an Papst Johannes. Zbynko flieht zum Wenzel-Bruder Sigmund, wobei er unterwegs stirbt. Womit auch der Bann gegen Hus wiederum erledigt war.
VII Ein neues Streitthema: der Ablaß des neuen Papsts – Großer Bann
Sigmund, König von Ungarn, war von den Kurfürsten soeben zum deutschen König erhoben worden war, wobei Wenzel, gemäß einer Absprache mit ihm, nun auf die Kaiserkrone hoffte. Und es sich deswegen nicht mit dem neuen Papst verderben kann, auch wenn dieser, selbst Kriegsmann von Herkunft, nun auch als Papst Krieg führen will: gegen König Ladislaus von Apulien, Unterstützer des noch in Rom amtierenden Gegenpapsts Gregor XII.: Krieg als Kreuzzug – nicht gegen Heiden, wie bisher, sondern gegen einen christlichen Herrscher in Unteritalien.36 Als Papst schreibt er wie immer für Kriegsunterstützer Ablässe aus, die der neue Erzbischof in Prag in Böhmen verkünden soll.
König Wenzel, am Geschäft beteiligt, wird von Hus angefleht, es zu untersagen, vergeblich. Hus versucht eine Erklärung der Universität gegen den Kreuzzug und den damit verbundenen Ablasshandel zu erreichen. Er muss erleben, dass seine alten Freunde aus frühen Wyclif-Studien, Stanislaus Znaim und Stefan Paletsch, dieser ist soeben Dekan der Theologenfakultät, ihn im Stich lassen: was ein Papst anordne, müsse man ausführen (dabei war seine Autorität keineswegs gesichert: er war zu der Zeit einer von dreien und einer gegen die zwei anderen). Es schmerzt ihn: »Ein Freund ist mir Paletsch, eine Freundin die Wahrheit. Unter beiden muss man dieser den Vorzug geben«37.
In einer lebhaften Disputation an der Universität stellt Hus klar: kein Papst oder Bischof darf Krieg führen; schon gar nicht um weltlicher Macht oder Güter willen; »um Christi willen« muß alles gewaltfrei geschehen; und Ablass von Sündenstrafen sei nur ohne Geld möglich nach Matth. 19,8 (»umsonst«). Hieronymus unterstützt ihn, in der Stadt finden Spottumzüge gegen die Ablasshändler statt.
Nun will Wenzel mit Androhung von Todesurteilen gegen Papstspötter Ruhe herstellen. Es kommt zu Hinrichtungen von Studenten, die Hus noch zu verhindern versucht hatte – nun muss er die »Märtyrer«-Messe für die »Bekenner der göttlichen Wahrheit« in Bethlehem feiern.
Paletsch führt weiter Gegenattacken. Als Theologen-Dekan lässt er die früher verurteilten Sätze, nun vermehrt um solche zum Ablaß, erneut verurteilen – und droht deren Vertretern mit Vermögensentzug. Das wird jetzt vom König gutgeheißen. In der Erwiderung der Ablassgegner vollzieht Hus definitive Absagen an den Gehorsam gegenüber jedweder menschlicher Obrigkeit, die sich in Todsünde befindet, sei es in Kirche oder Staat. Nun wird er beinahe Opfer physischer Attacken bei der Predigt in der Bethlehemskapelle.
Parallel wird bald darauf in Rom, wo Johannes jetzt residiert, von den Kardinälen, um die sich auch der Vertreter von Jan Hus, Magister Jesenic, bemüht hatte (zeitweise sperrte man ihn weg), das Urteil gefällt: der Große Bann gegen Hus. Nach zwanzig Tagen der Zeit zum Widerruf des Betroffenen wird er drastisch vollzogen durch Gottesdienstverbot, Auslöschen und Zerschmettern der Kirchenkerzen. Niemand darf ihn beherbergen, speisen, tränken, mit ihm umgehen, nicht einmal, wenn er stürbe, ihn kirchlich beerdigen. Der Bannfluch ist sonntäglich zu wiederholen. Hus soll festgenommen werden, die Bethlehemskapelle ist zu zerstören (dies konnten Husfreunde und Vermittelnde dann doch verhindern).
Hus selber schreitet zur »Appellation an Christus«. Und hängt sie öffentlich aus: »So appelliere ich nun an Gott als den höchsten und gerechtesten Richter, der von Furcht nicht bewegt, durch Korruption nicht gebeugt noch durch falsche Zeugen nicht getäuscht wird«- «Diese Appellation überreiche ich Johannes Hus aus Husinec, meinem Herrn Jesu Christo als dem allergerechtesten Richter«. Mit diesem Schritt verliess er den Raum und Rahmen des kanonischen Rechts. In diesem ist Christus als Instanz nicht vorgesehen, da der kanonisch höchste Richter seinen Sitz auf Erden hat und seinen Gerichtshof hier unterhält.38
Soll er nun Prag verlassen, um das Interdikt aufzuheben, wo keine Gottesdienste mehr gefeiert werden dürfen (ausser, weiterhin, in der Bethlehemskapelle)? Selbst Freunde, die um ihn fürchten, und seine Gemeinde, die er befragt, raten nun dazu. Und der König lässt durch sein Frau Sophie, eine Hus-Freundin, ihm signalisieren: er werde sich um eine Neuregelung bemühen.
VIII Exil im eigenen Lande: Predigt an den Zäunen und Theologie (1412/14)
Bei einem Landadeligen aufgenommen in der Ziegenburg (nahe dem späteren Tabor) bei Familie Austi, wo ihn besonders dessen Frau Anna – vielleicht eine ursprüngliche Waldenserin? – schützte, begann er bald wieder zu predigen, da er sich Vorwürfe machte, dem Königs-Predigtverbot gefolgt zu sein: in der Volkssprache: tschechisch, unter freiem Himmel »auf Strassen und an Zäunen«. Die Unterstützung im einfachen Landvolk erwies sich als groß, der Bann wurde nicht einmal vom König verfolgt. Sogar erschien er kurzfristig überraschend in Bethlehem, um zu predigen und sich wieder zurückzuziehen.
Der König versuchte noch eine innerböhmische Einigung über die in der Ablass-Kontroverse immer grundsätzlicher gewordene Kirchen-Frage herbeizuführen. Ein Einigungstext zwischen den beiden Parteien, betreffend die Frage, welcher Kirche man sich unterwerfen solle/könne, an dem auch Stanislaus und Stefan beteiligt waren – scheiterte zuletzt doch. Zugleich versuchte Hus in sachlichem Ton einen Traktat – sein Hauptwerk »De ecclesia« niederzuschreiben – als die Enttäuschungen über dies Scheitern sich niederzuschlagen begann in Polemiken gegen die einstigen Freunde: ab Kap. XI schlägt der Ton um. Es entstand eine regelrechte »Traktatenschlacht«39, bei der zuletzt Schriften von Hus je gegen die beiden ehemaligen Freunde und andererseits eine Gegendarstellung von Palec zu Hus‘ De Ecclesia unter gleichem Titel erschien. Worum ging es Hus in seiner theologischen Hauptschrift?40 Sie ist im übrigen, nach der von Wyclif, eine der ersten zum Thema, zu denen nun die der Gegner kommen: Ekklesiologie wird hier erstmals dogmatisch.
Der grundlegende, strukturierende Begriff ist, wie bei Wyclif, der der Prädestination. Die Kirche ist, augustinisch, die Kirche der von Gott zum Heil Vorherbestimmten (analog: die Verworfenen). Dies kann letztlich keiner definitiv wissen. Nicht einmal guter Lebenswandel gibt Sicherheit – er mag als Zeichen verstanden werden, doch nicht als Garantie. Hus kommt zu Aussagen wie: es kann sogar böser Lebenswandel sein, und dennoch Erwählung und umgekehrt guter und dennoch Verwerfung. Somit können sich auch die Hierarchen nicht sicher sein. Die Intention bei Wyclif und Hus scheint deren Verunsicherung zu sein. Zunächst – wie auch sonst bei Christen – individuell, seelsorgerlich betrachtet. Doch entsteht dann die Frage nach der Würde des Amtes und der Gültigkeit der Sakramentshandlungen.
Da nun zugleich der würdige Lebenswandel von Hus zur Voraussetzung legitimen kirchlichen Handelns und Ämterbesitzes gemacht wird – so müsste daraus folgen, dass die Amtshandlungen und Sakramente der unwürdigen Amtsinhaber ungültig sind. So weit will Hus aber nicht gehen. Er versteht deren Handeln als unmittelbares Wirken Gottes durch seine priesterlichen Diener hindurch – eine Folge seiner philosophisch-theologischen Denkweise.
Was die Anordnungen angeht, so sind sie am »Gesetz Christ« selber zu prüfen –»wie weit man ihnen Gehorsam schulde«. Das Gesetz Christi, verstanden als die Heilige Schrift unmittelbar, ist allgenügsam zur Leitung der Kirche, ja, auch der Welt, enthält sie doch Gottes Gedanken hierzu unmittelbar. Auch hier hat das kirchliche Amt zwar eine vorläufige Bedeutung, doch seine Anordnungen unterliegen der Prüfung am Gesetz Christi – eine Aufgabe letztlich von jedermann, jedem Gläubigen. Kriterium ist der Gotteswille: schon Ergänzungen sind problematisch, unterstellen sie doch dass das Gesetz Christi nicht voll genüge (was er behauptet in »De sufficientia legis Christi«); Anordnungen entgegen diesem Gesetz Christi sind vollends undiskutabel.
Das »Gesetz Christi« bekanntzumachen, war das Ziel der »Postille«, der Sammlung von Sonntags-Evangelien-Predigten (keine zu den neutestamentlichen Briefen oder zum AT), die er parallel herstellte, gedacht wohl für Kollegen, für Predigten in der Volkssprache. Weitere Schriften dieser Monate legen den Laien Grundtexte des Glaubens dar wie die »Auslegungen« von den Zehn Geboten, dem Credo, dem Vaterunser oder Probleme wie das der Simonie = Ämterkauf, eines der Grundübel der zeitgenössischen Kirchlichkeit. Und gar lässt er an die Wände von Bethlehem aufmalen Ausschnitte aus seiner Schrift »Von den sechs Irrlehren«– zur öffentlichen Debatte (keine »Transsubstantiation« durch die Priester, keine Verehrung der Mutter Gottes und Heiligenverehrung als heilsnotwendig u. a.).
IX In Vorbereitung von und unterwegs nach Konstanz
Seit Frühsommer 1414 lebt Hus näher bei Prag in der Burg Krakovec bei Lefl von Lafany, Mitglied des Kronrats. Hier wird er von Delegierten Sigmunds aufgesucht und zum Besuch des nun ausgeschriebenen Konzils in Konstanz eingeladen – dem deutschen König war es gelungen, den Pisaner, jetzt in Rom residierenden Papst zur Einberufung zu gewinnen, und dazu noch in einen Ort im Reich, gar nördlich der Alpen. Er lässt freies Geleit versprechen, und dass Hus dort seine Anliegen vortragen könne – so käme es zu einem definitiven Urteil in der Streitsache, seiner persönlichen, aber auch der Böhmens, das ja im Ruf des Ketzerlands stehe, wovon es befreit werden muss (zumal wenn sein König bzw. derzeit Königsverwalter vom Papst zum Kaiser gekrönt werden will). Nach Erwägungen, und sogar entgegen Warnungen, seine Sache sei längst entschieden, nämlich negativ – will Hus es wagen. Zeugnis ablegen von der erkannten Wahrheit, das Konzil überzeugen, und so die unabweisliche Reform der Kirche nach dem Gesetz Christi befördern. Sigmund lässt das Versprechen zunächst durch Gesandte bestätigen, dann entsendet er zwei seiner Bediensteten, die Hus sogar wohl gesonnen sind, um ihn auf dem Weg zu begleiten: die Ritter Wenzel von Duba und Johann von Chlumb samt dem Baccalar-Schüler von Hus Peter von Mladoniowitz als Sekretär – sein Bericht wird zur wichtigen Quelle für die Nachwelt werden.
Sorgsam hatte sich Hus vorbereitet: zuerst fordert er öffentlich in Prag auf, ihm Ketzerei nachzuweisen, wenn man ihm solche vorhalten möchte; gar lässt er sich eine Bescheinigung des Prager Inquisitors über fehlenden Ketzereivorwurf in der Stadt und somit Rechtgläubigkeit ausstellen. Und mit drei Reden, die er dem versammelten Konzil öffentlich vortragen will: »Vom Frieden«, um es auf Friedlichkeit einzustimmen; »Vom Glauben« – hier unterscheidet er den falschen vom richtigen: der Kirche glauben ist noch nicht an Gott glauben; und »Von der Allgenügsamkeit des Gesetzes Christi«. Sie werden nie zum Vortrag kommen: es sind – im doppelten Sinne – ungehaltene Reden.
Er stellt sich hier grosses, gelehrtes und zugleich aufgeschlossenes, belehrungsbereites Publikum vor, das er zu überzeugen hofft – welche Vorstellung hat er von der Situation auf dem Konzil ! Und weiß er, was dort tatsächlich verhandelt werden wird ? Krzenck bescheinigt ihm völlig falsche Vorstellungen darüber. So geht aus Briefen hervor, dass er meinte, wegen seiner Kritik am Lebenswandel der Priester verhört zu werden; noch in Konstanz meinte er, wegen seines Einspruchs gegen den Kreuzzug und Ablass von Papst Johannes – »wenngleich dieser Umstand gar keinen Gegenstand der Verhandlungen bildete«. »Hus hoffte, in der Höhle des Löwen nicht nur seine Lehre verteidigen, sondern zugleich zur Überwindung des Schismas beitragen zu können«41.
Den Geleitschutz schriftlich erhielt für ihn erst der eigens dorthin eilende Chlum in Speyer im Oktober. Der Weg von Hus ohne diesen, den er nur mündlich hatte, glich aber einem einzigen Triumph. Weder wurde der in Prag von den »Deutschen« erhobene Deutschenfeind- Vorwurf hier bestätigt, noch der Bann geachtet. Vielmehr schien alle Welt hohes Interesse an seiner offenen Sprache und Verkündigung gerade in der fränkisch-schwäbischen Nachbarschaft Böhmens zu haben. Er war zuversichtlich auf dem Weg nach Konstanz.
X Konstanz: Uneingelöste Versprechen, Einkerkerung, Thema Laienkelch
Selbst dort, er traf am 3. November ein – zu allem weiteren zu dieser in vieler Hinsicht singulären und hoffnungsvollen Konzilsversammlung wird der Korreferent Joachim Köhler das Nötige sagen – wird ihm, von Papst Johannes selber am folgenden Tag durch seinen Begleiter Chlum und den Vertreter der Prager Universität Heinrich von Lacembok Wohlwollen zugesichert und, den Bann unterbrechend, wenn auch intern, Messe zu feiern gestattet – den Bann aufzuheben, dazu sei er jedoch nicht ihn der Lage (versuchte er möglicherweise eine »stille Erledigung« und Hus‘ Wieder-Abreise zu erreichen?).
Aber es konnte nicht überraschen, daß Palecz bald ebenfalls anwesend war, zusammen mit anderen hochrangigen Husfeinden aus Prag (und auch von anderen Universitäten), als offizielle Delegierte der Erzdiözese, und zusammen mit dem Inquisitor Michael de Causis den Papst sogleich umzustimmen bemüht waren, mit 8 (zumeist, so Kejř, falschen) Anklagen zum Thema Sakramente und Kirche. Zum einen machte er Hus verantwortlich für die inzwischen in Prag von Freunden (Jakobell von Mies) neu eingeführte Kelchkommunion und beschuldigte ihn der Remanenzlehre (der er selber angehangen und der er abgeschworen hatte – ein »Totschlagargument«). Sodann wegen »Ungültigkeit von Sakramenten und Geboten von in Todsünde befindlichen Priestern« bis hin zum Papst. Dass er selber darunter fiele, mußte dem Papst Johannes klar sein. Mit der List, ihn zu einem Gespräch über seine Lehre dem Papst vorzuführen, nahm man (drei Bischöfe und der Rat der Stadt Konstanz) ihn heimlich gefangen, verschleppte ihn in einen üblen Kerker im Dominikanerkloster, das vor der Stadt auf einer Insel lag (Peter Mladoniowitz wird es berichten), wo er den ganzen Winter bleiben musste und schwer erkrankte.
Bereits am 1. Dezember wurde eine 12köpfige Kommission bestimmt, die Hus‘ Schriften auf Häresien durchsuchen sollte, darunter der führende Jurist Kardinal Francesco Zabarella, der schon mit seinem Fall betraut gewesen war42. Man erbat am 10. Dezember seine Stellungnahme zu 45 verurteilten Artikeln von Wyclif, die er schriftlich geben konnte. Hus‘ Antwort: 30 davon habe er selber so nicht vertreten; ob alle bei Wyclif stünden, sei fraglich. Er interpretiert sie abmildernd.
Seine Unterstützer machten inzwischen die Öffentlichkeit auf den Geleitbrief Sigmunds aufmerksam, der erst zu Weihnachten eintraf. Wird er für Freilassung sorgen? Es scheint eine Bemühung darum gegeben zu haben. Am Neujahrstag sprach er, nach späterem Zeugnis eines beteiligten Kardinals, »dass die »causa Hus et alia minora« (»und andere kleinere Angelegenheiten«) die Reform der Kirche nicht hindern dürften«. Was bedeutet: sie habe davor zurückzustehen, statt sie als deren Promotor zu sehen. Schon am 4. Januar verriet er die Sicherheits-Zusage und verlangte nur noch, Verbesserung der Unterbringung und, immerhin, dass Hus sich öffentlich verteidigen dürfe.
Am selben Tag sollte er sich, von Chlum gebeten, auch über eine neue Streitfrage äussern: die Kelchkommunion auch der Laien, die man nach Joh. 6,53 nun in Prag als schriftgeboten und so heilsnotwendig auch in Kirchen von am Konzil abwesenden Konservativen eingeführt hatte. Das tangierte den Sonderstatus der Geistlichen. Zudem wurden Schauermärchen über kommunizierende Frauen und abergläubische Sitten verbreitet. Hus, der hier sogar gebremst hatte, steht aber zu den Aussagen der Schrift, wie schon in seiner Schrift von Konstanz »de sacramento calicis«. »Ich weiß nichts anders zu sagen, als dass das Evangelium und der Paulusbrief genau das sagen und dass es in der Urkirche so gehalten worden ist«. Leider wurden immer wieder auch solche internen Briefe an Freunde und nach Prag aus dem Gefängnis abgefangen und gegen ihn verwendet. Auch eine von König Wenzel eintreffende Delegation, darunter Husfreunde wie jener Inquisitor Nikolaus, der Hus das Zeugnis der Rechtgläubigkeit ausgestellt hatte, und Christian von Prachatitz konnten nicht helfen: sie wurden sogleich festgenommen.
Schliesslich besiegelte wohl die Ankunft des berühmten Reformers und Konziliartheologen, Kanzler der Universität Paris, Jean Gerson, Vordenker des konzilaren Vorgehens, die Aussichtslosigkeit für Jan Hus: hatte er doch schon Anfang 1414 vom neuen Prager Erzbischof Konrad von Vechta verlangt, gegen die wyclifitische Häresie scharf vorzugehen und im Dezember bereits 20 Thesen aus Hus‘ De Ecclesia kommentiert und als »irrig« gebrandmarkt. Zwar galt dieser »doctor Christianissimus« ebenfalls als Reformer und war es auch- doch in einem ganz anderen Sinne als Hus: die Kritik an der Geistlichkeit zielt bei ihm keineswegs auf die Hierarchie als solche – die er sogar in Analogie zu den »Hierarchien« bei Dionysios Areopagita theologisch aufwertet. »Der innere Mensch sollte reformiert und zugleich fest an die Hierarchie gebunden werden«43. Und das nun von neuem durch die Autorität des Konzils.
XI Das Konzil bestätigt sich selbst und verurteilt Wyclif, dann Hus
Die dramatischen Ereignisse im Frühjahr 1415, über denen zunächst die causa Hus etwas in den Konzils-Hintergrund getreten war:
- die Flucht von Papst Johannes‘ (am 20. März) und
- die Selbstdefinition des Konzils als sacrosancta synodus in eigener, nicht päpstlicher Vollmacht direkt unter Christus (6. April) , und
- die formelle Verurteilung der Theologie Wyclifs als ketzerisch (am 4. Mai), der Bücherverbrennungen, ja Exhumierung der Gebeine folgten
werden wir im anderen Referat beleuchtet bekommen.
Für den Fortgang der Verhandlung über Hus bedeutete jedenfalls Wyclifs Verurteilung den letzten »Schuss vor den Bug«. Das Konzil wollte – und musste vielleicht? versucht man es von seinen eigenen Prämissen her nachzuvollziehen – seine Rechtgläubigkeit beweisen, gerade, weil es in noch ungeklärt neuer Theorie sich seiner selbst erst gewiss werden musste. Es tat es in seiner fünften Session mit der Erklärung »Haec sancta«. Und weil es, gerade von deren Vordenkern her gesehen – Kardinal Pierre d’Ailly und der berühmte Pariser Theologie-Professor Jean Gerson – eine andere Reformidee in sich trug, wollte und vielleicht: konnte es jene von Wyclif oder Hus nicht akzeptieren.
Durch das Ausscheiden des Papstes, war die frühere Hus-Kommission hinfällig. Es war der Moment, da Sigmund hätte eingreifen können zugunsten von Hus, man hatte ihm die Schlüssel zu seinem Gefängnis ausgehändigt. Die übergab er jedoch dem Bischof von Konstanz, der Hus auf sein Schloss Gottlieben verfrachtete. Sigmund sah als vorrangig, das zu zerfallen drohende Konzil zu retten und nur er konnte es. Sein wichtigster Partner dabei war Gerson.
Bereits am 17. April war eine neue Kommission eingesetzt, die den Fall Hus zu Ende führen sollte. Mit Kardinal d’Ailly machte man einen Besuch bei Hus. Dieser bestand auf Sigmunds Zusage, er dürfe sich öffentlich erklären; wofür auch die böhmischen Hus-Freunde kämpften. Am 5., am 7. und 8. Juni fanden tatsächlich diese Verhandlungen statt – zunächst bezogen auf verschiedene Fragen wie die Remanenz, was ihn nicht betraf, dann einst das Nichterscheinen vor der Kurie auf die Anklage hin – dann aber auf die ekklesiologischen Aussagen. Die Verhöre verwilderten sich, mit unsachlichen Zwischenrufen und Falschunterstellungen, wogegen sich Hus verwahrte. Er hatte erklärt, sich « in Demut« dem Konzil zu unterwerfen, bereit sich von ihm »korrigieren« zu lassen, wofern man ihm Ketzerisches nachwiese. Beim zweiten Verhör war Sigmund anwesend und forderte von Hus Widerruf, da er einen Ketzer zu schützen nie im Sinn gehabt habe. Kardinal Zabarella, der seinen Fall seit der Anklage in Rom 1411 gut kannte, hielt ihm vor, dass er einer Vielzahl von Zeugen widerspreche. Beim dritten Verhör resumierte der Vorsitzende, Kardinal d‘Ailly, Hus müsse 39 ihm vorgelegten Artikeln abschwören und sich dem Konzil unterwerfen, so werde er pie et humaniter – milde – behandelt. Doch noch erklärte Hus auch in Anwesenheit Sigmunds: ein König in Todsünde sei »nicht würdig, vor Gott König zu sein« – wogegen ihm dieser, da muss man ihm zustimmen – »niemand lebt ohne Sünde« erwiderte, seiner politischen wie kirchenpolitischen Sendung dessen ohngeachtet gewiß (auch hier möchte man ihm zustimmen). Und er hielt ihm die drohenden Strafen vor. Das Urteil – einer, der es zu hören bekommen hatte, flüsterte es Peter von Mladoniowitz zu – war allerdings schon vorher gefallen.
Und Hus hatte sich schon entschieden,dieses Urteil und alles, was damit verbunden sein werde, auf sich zu nehmen. Dabei versuchten immer wieder gut Meinende ihn mit Kompromissgedanken zu überzeugen, andere bestärkten ihn in seinem Weg . Und er schrieb reichlich Korrespondenzen «trotz Kerker, in Ketten«, »die ich – hoffentlich – für das Gesetz Christi erdulde«, wie er zuletzt schieb. Sigmund musste er vorwerfen, »in allem betrügerisch« gehandelt zu haben. Er bekräftigte in den Briefen seine Wahrheit. Und das noch einmal, nach letzter Aufforderung des Konzils zum Widerruf, am 5. Juli.
Am 6. Juli fand die feierliche Degradation im Münster statt –Tonsur, Entkleidung der priesterlichen Gewänder, Aufsetzen des Ketzerhuts als eines »Häresiarchen«, Verwünschung, Trennungsformel, Übergabe an den »weltlichen Arm« zur Hinrichtung. Dafür hatte Sigmund zu sorgen, der seine Leute wie den Burggrafen von Nürnberg (den späteren Friedrich I. von Brandenburg) und andere dazu einsetzte. Peter von Mladoniowitz schildert seinen Tod im Feuer unter Gesang und Gebet, als das Martyrium eines bereits Heiligen. Ulrich von Richenthal hingegen verweist in seiner Chronik auf Gestank und andere Zeichen, die auf den verdienten Höllentod Hus‘ verweisen.
Die auf Hus’Tod folgende hussitische Bewegung, in aller ihrer Differenziertheit aber breitet sich aus unter dem Motto »Die Wahrheit siegt« nicht nur in Böhmen.
Schlußbemerkung
Es bleiben uns für heute Aufarbeitungs-Aufgaben, die wir in Aufrichtigkeit angehen sollten. Mir scheint vorbildlich, wie die ACK Konstanz, in dem sich alle örtlichen Kirchen vereinigten, das angegangen ist: es kann nicht darum gehen, sich als Verteidiger von Hus aufzuschwingen auf Kosten anderer. Seine strenge Stimme stellt uns alle ins Aus von jeder Selbstgerechtigkeit. Jede Kirchentradition dürfte eigenes Fehlverhalten einst oder heute in Hochachtung vor dem Zeugnis von Jan Hus aufzuarbeiten haben – ohne jeder seiner damaligen Positionen im einzelnen heute folgen zu müssen.
Um es von meiner Kirche her zu sagen: auch evangelisch sind wir weder mit Augustin, noch mit Wyclif und auch ein Stück weit mit Hus ohne weiteres einig in der Auffassung der sog. Prädestinationslehre. Und wir bestehen wie andere Kirchen auf der Verlässlichkeit der Zusage des Wortes Gottes und der Gnadenwirkung der Sakramente durch die kirchlich Beauftragten. Dennoch stellte Hus jede eigenmächtige Selbstsicherheit der Kirche zu Recht in Frage, erinnernd an Gottes Erst- und Letztvollmacht gegenüber jeder Kirche und Theologie und gegenüber uns, den Gläubigen.
1 Vortrag gehalten zu Gedenkveranstaltungen anlässlich des 600. Jahres der Hinrichtung von Jan Hus durch das Konstanzer Konzil bei der Deutschen Comeniusgesellschaft und in Kirchengemeinden 2015-2016
2 Wurde er etwa gerade dafür von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal erhoben? In seiner umfangreichen Darstellung Das Konzil von Konstanz (1999/1997) stellt er fest (Bd. I, S. 362), der Prozess sei ohne formale Fehler verlaufen. Er verweist allerdings auf die politischen und kirchenpolitischen Aspekte, die wesentlich zur Verurteilung beitrugen. – Eine differenzierte Beurteilung, die die formalen Fehler der vorausgelaufenen Verfahren in Prag und Rom sowie eine Wertung der gegenläufigen Aspekte beim Konstanzer Prozess mit einbezieht, gibt Jiřy Kejř: Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche (2005) (»Ein Teil der Beweise war tatsächlich falsch«; Zuständigkeitshinfälligkeiten; Bestechungsgelder usw.). Von »Justizmord« »im eigentlichen Sinne« sei nicht zu reden. Pater Paul de Vooght hatte in seinem bahnbrechenden Werk L’hérésie de Jean Huss. 1960 / 2 Bd. 1975 die Hinrichtung des von Vlastimir Kybal sogar als »treuer Sohn der Kirche« Gewürdigten fast ausschliesslich den unglücklichen Nebenumständen zugeschrieben (dazu der harten Position zweier massgeblichen Konzilsväter, des Kardinals d’Ailly und des Pariser Theologieprofessors Jean Gerson). Andernfalls, meint er, hätte es keineswegs dazu kommen müssen.
3 Sein ebenfalls bei der Comeniusgesellschaft gehaltener Vortrag ist dokumentiert in: Joachim Köhler – Franz Machilek: Gewissen und Reform. Das Konstanzer Konzil und Jan Hus in ihrer aktuellen Bedeutung. 2015
4 Oh sancta simplicitas! Über Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Ein Essay zum Ökumenismus. 2017, 2. Aufl. LIT 2018
5 L’Hérésie de Jan Huss (1960, zusammen mit Hussiana ) Bd.I und II. 1975. Zitate hier aus S. Vff.
6 Neuausgabe 1984
7 Vgl. bei Franz Machilek a. a. O. die Übersicht S. 46-55, die bis zum Sommer 2015 reicht.
8 Ein solcher Schritt erfolgte bereits am ersten Tag des Neuen Jahrtausends in der Erklärung von Kardinal VlK und Synodalpräses Pavel Smetana, zugleich Vors. Des Ökumenischen Rats Prag, im Anschluß an das vorangegangene internationale Symposion in Rom, sowie im Sommer 2015 »an den Apostolischen Gräbern« unter St. Peter. Die folgenden Hinweise sind hieraus entnommen.
9 Bei Machilek a. a. O. S. 54
10 Im Folgenden nach Roman Mnich: Exustus non convictus: Jan Hus und Hussiten bei den Ostslawen. Vortrag in Uherský Brod bei einem Symposion zu Hus und Comenius, Oktober 2014 (im Druck bei Studia Comeniana et Historica).
11 A. a. O. S. 68f.
12 A. a. O. S. 271
13 Das Folgende gemäß Hinweisen bei Thomas Krzenck, Johannes Hus. 2011 S. 188ff.
14 Es ist allerdings die Frage gestellt worden, ob es sich nicht um Fälschung handelt?
15 Zurecht sprach Amedeo Molnar von der hussitischen bzw. den dieser vorausgegangenen Reformansätzen von einer »ersten« Reformation. So geraten die Reformationen des 16. Jh. bereits in sich in den Status einer »zweiten Reformation«, ein Begriff der sonst zumeist vom calvinistischen Anspruch einer überbietenden Fortsetzung der lutherischen in Anspruch genommen wurde.
16 Am deutlichsten in der Symbolik des Verhältnisses von »Gans« (tschech. Hus) und »Schwan«, legendär gemäß angeblichen Äußerungen von Hus selber oder ihm Nahestehender. Am Reformationsdenkmal in Worms von Ernst Rietschel von der Jahrhundertmitte steht Martin Luther erhöht über einem Kranz von vier »Vorreformatoren« aus verschiedenen Ländern, zu denen neben Jan Hus (Böhmen) dessen Vorgänger Petrus Waldes (Frankreich) und John Wyclif (England) sowie der ebenfalls auf dem Scheiterhaufen hingerichtete Florentiner Bußprediger Savonarola (Italien) zählen. .
17 Arnd Brummer: Jan Hus. Warum ein frommer Katholik auf dem Scheiterhaufen endete. 2015. Hus beurteilt das später, »seit ich die Schrift verstanden hatte«, als »böses Begehren«, S. 16.
18 Brummer S. 19
19 Bereits früh bestand Inquisition in Böhmen, vielleicht gerade wegen früher Anwesenheit von Waldensern? Vgl. Alexander Patschowski: Die Anfänge einer ständigen Inquisition in Böhmen. Ein Prager Inquisitoren-Handbuch aus der ersten Hälfte des 14. Jh. 1975 und Quellen zur böhmischen Inquisition im 14. Jh. 1979
20 Nachweise, auch zu anderen Details, bei Thomas Krzenck: Johannes Hus. 2011
21 Zu ihnen und in ihrer Verbindung mit den religiösen Bewegungen vgl. Thomas A. Fudge: Religious reform and social revolution. 2010, wobei von den allzu billigen marxistischen Deutungen abgesehen werden kann, wie sie seit Václav Nejedlý in der kommunistischen Tschechoslowakei dominierten (mit Nachwirkungen im allgemeinen Bewusstsein dort bis heute!): »Von Bethlehem ging die erste Sozialrevolution der Welt aus«.
22 Hans Kühner: Lexikon der Päpste. 1956. S. 79-81, 82f. und83f.
23 Noch 1517 wurde unter Julius II. hiervon Gebrauch gemacht; Leo XIII distanzierte sich 1885 teilweise davon, erst Pius XII. 1955 definitiv.
24 Gustav Adolf Benrath, Art. Wyclif . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) Bd. 8 2005 Sp. 1747, zum folgenden zu Wyclif vgl. ebd. Sp. 1247-1750. Dort Lit.-Hinweise
25 Vgl. Günther Mensching: Art. Duns Scotus . In: Metzler Philosophenlexikon 2003 SS. 188-192
26 Vgl. Wolfgang Meckel: Art. Ockham. In: ebd. S. 515-519
27 Brummer, S. 37
28 Brummer a. a. O. S. 39. Die falsche Interpretation durch deutschnationale Historiker wie C. Höfler ist durch gegenläufige Aussagen von Hus selber, seine Zusammenarbeit auch mit Deutschen wie Nikolaus von Dresden sowie die Hochschätzuung seiner Erfahrungen auf dem Weg nach Konstanz durch Deutschland längst widerlegt.
29 Vgl. allgemein Frantisek Śmahel –Horst Rabe: Die Universität in Alteuropa. 1994
30 Pavel Soukup: Jan Hus. 2014. – Śmahel wies freilich nach, dass von den Magistern nur 20 % tschechisch waren; vermutlich war bei den Studenten der böhmische Anteil höher.
31 Ein Besuch von Pariser Professoren in Prag hatte auf die entsprechende Regelung dort verwiesen.
32 A. a. O. S. 498
33 So kann sich die »Hussitische Kirche« und die Böhmische Brüderkirche auf ihn berufen, wie auch die altkatholische Kirche, die evangelischen Kirchen und die Reformbewegung der römisch-katholischen Kirche.
34 Brummer a. a. O. S. 75
35 Zum spezifischen Zusammenhang von Reichsreform und Kirchenreform, der alles komplizierte, vgl. Alexander Patschowski – Ivan Hlavacek: Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz und Basel. 1990
36 So wird er in der Literatur auch als »Pseudo-Kreuzzug« geführt.
37 Brummer a. a. O. S. 102
38 Man hat diesen Schritt schlicht als selbstgefährdend »unklug« gekennzeichnet, schliesst er doch die Ablehnung des kanonischen Rechts der Kirche und des in ihm vorgesehenen höchsten Richters in Gestalt des Papstes aus und konfrontiert sich somit dem rechtlichen Kirchensystem überhaupt. So stellt Kejř fest, dass Hus auch weiterhin den Rechtsvorgang nicht verstand und die einzelnen Schritte oft missverstand. Doch sei dies begründet in seinem Verständnis des Rechts, das »kein juristisches und kein rechtsphilosophische sondern ein rechtstheologisches« war. – Brandmüller hingegen hält ihm (unabhängig von einzelnen »Irrtümern«) seinen »umfassenden Irrtum« vor: die Leugnung des »inkarnatorischen Wesens der Kirche« (in Konzil Bd. II).
39 Soukup a. a. O. S. 162
40 Vgl. Alexander Patschowski hierzu in: Lebenslehren – Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. 1989
41 Krzenck a. a. O. S. 147f.
42 Er hatte in diesem früheren Stadium Bereitschaft gezeigt, Hus freizugeben.
43 Krzenck a. a. O. S. 162. – Zu Gersons kirchenpolitischer Bedeutung vgl. John B. Morell: Gerson and the Great Schism. Manchester 1960. – Walter Dreß hatte 1931 in einer Studie auf den Zusammenhang seiner philosophischen Position des »Nominalismus«, verbunden mit der Kritik am Oxforder und Prager »Realismus« verwiesen, den dieser mit seiner Mystikkonzeption in Abwehr von Pantheismus hat.